ADHS & Trauma: Gibt es eine Verbindung?

Veröffentlicht am: 01. Oktober 2025
Zuletzt ärztlich geprüft am: 07. Oktober 2025

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Porträt von Dr. med. Jens Westphal, Praktischer Arzt FMH und medizinischer Reviewer bei klaro-adhs.ch. Er begleitet Patientinnen und Patienten in der Schweiz bei der Abklärung und Behandlung von ADHS. Das Bild zeigt ihn vor einem klaro-Hintergrund als Teil des ärztlichen Teams für ADHS Schweiz.

Dr. med. Jens Westphal

ADHS-Spezialist und Praktischer Arzt (FMH)
Dr. med. Jens Westphal ist Praktischer Arzt (FMH) mit langjähriger Erfahrung in der hausärztlichen Versorgung und Psychiatrie. Er ist medizinischer Reviewer bei klaro-adhs.ch und prüft alle Inhalte rund um ADHS, Diagnostik und Therapie auf wissenschaftliche Genauigkeit und praktische Umsetzbarkeit in der Schweizer Grundversorgung.

Inhaltsverzeichnis

Was ist ein Trauma?

Ein Trauma ist eine tiefe seelische Verletzung, die durch eine stark belastende oder überwältigende Erfahrung ausgelöst wird. Dabei kann es sich um ein einmaliges, plötzliches Ereignis handeln, etwa ein Unfall, ein Übergriff oder eine Naturkatastrophe (auch als „Schocktrauma“ bezeichnet). Ebenso kann ein Trauma aber auch über einen längeren Zeitraum hinweg entstehen, etwa durch chronischen emotionalen Stress, Vernachlässigung, psychische Gewalt oder destruktive Familiendynamiken. In diesem Fall spricht man häufig von einem „frühkindlichen Trauma“ oder Entwicklungstrauma (Spencer et al., 2016).

Wichtig: Es kommt nicht nur darauf an, was passiert, sondern vor allem darauf, wie die betroffene Person das Erlebte verarbeitet und wahrnimmt. Zwei Menschen können dasselbe äußere Ereignis erleben, und dennoch völlig unterschiedlich darauf reagieren. Deshalb ist Trauma immer subjektiv, und jede Erfahrung einzigartig (Spencer et al., 2016).

Typische Anzeichen eines Traumas können sein:

  • Anhaltende innere Unruhe und Übererregung: Das Nervensystem bleibt dauerhaft im Alarmmodus
  • Reizbarkeit und starke Stimmungsschwankungen
  • Ein- und Durchschlafstörungen, häufig in Verbindung mit Albträumen
  • Konzentrationsprobleme und geistige Erschöpfung
  • Flashbacks oder intensive Erinnerungsbilder, die sich aufdrängen
  • Gefühl von innerer Leere, emotionale Taubheit oder sozialer Rückzug
  • Starke Schuld- oder Schamgefühle, auch ohne erkennbaren Anlass
  • Schwierigkeiten, vertrauensvolle Beziehungen aufzubauen oder zu halten

Solche Symptome können Wochen, Monate oder sogar Jahre anhalten. Besonders tückisch: Sie ähneln in vielen Punkten den Anzeichen von ADHS, etwa der Reizbarkeit, Impulsivität oder Konzentrationsproblemen. Deshalb kann es zu Fehldiagnosen kommen, wenn der traumatische Hintergrund nicht berücksichtigt wird (Spencer et al., 2016).

Gibt es eine Verbindung zwischen ADHS und Trauma?Eine Frau verbirgt ihr Gesicht in den Händen – sichtbar überwältigt von ihren Gefühlen. Dieses Bild steht exemplarisch für die emotionale Überforderung, wie sie bei ADHS in der Schweiz häufig vorkommt. Die Kombination aus innerer Unruhe, Stress und Reizüberflutung kann zu tiefer Verzweiflung führen.

Ja, und zwar in beide Richtungen:

  1. Frühkindliche Traumata können ADHS-ähnliche Symptome auslösen.
    • Kinder, die in unsicheren oder belastenden Umfeldern aufwachsen, entwickeln oft Verhaltensstrategien, die wie ADHS wirken: hohe Impulsivität, starker Bewegungsdrang, Unkonzentriertheit (Zhang et al., 2022).
    • Diese Muster dienen dem Überleben in einem gefährlich wahrgenommenen Umfeld, quasi als «innere Alarmanlage» (Zhang et al., 2022).
  2. ADHS erhöht das Risiko, traumatisiert zu werden.
    • Kinder mit ADHS erleben häufiger Ablehnung, Mobbing, Missverständnisse oder emotionale Vernachlässigung (Zhang et al., 2022).
    • Die Symptome von ADHS, etwa Reizbarkeit oder Impulsivität, können soziale Konflikte begünstigen und das Erleben von «Nicht-genügen» verstärken (Zhang et al., 2022).

Diese Wechselwirkung macht die Differenzialdiagnose besonders schwierig. Oft zeigen sich bei Kindern (und Erwachsenen) Symptome wie Konzentrationsschwierigkeiten, Reizbarkeit oder emotionale Instabilität, die sowohl bei ADHS als auch bei Trauma auftreten können (Zhang et al., 2022).

ADHS oder Trauma? Typische Unterscheidungsmerkmale

Einige Merkmale können dabei helfen, zwischen ADHS und einer Traumafolgestörung zu unterscheiden, auch wenn die Grenzen oft verschwimmen. Besonders bei Kindern oder Erwachsenen mit belastender Vorgeschichte ist eine genaue Betrachtung wichtig (Teicher et al., 2016). Die folgende Tabelle bietet eine Orientierungshilfe:

Merkmal ADHS Traumafolgestörung
Beginn meist in der frühen Kindheit häufig nach einem klaren, belastenden Auslöser
Impulsivität situationsunabhängig, oft spontan kontextabhängig, meist durch Trigger oder Reize ausgelöst
Konzentration dauerhaft eingeschränkt, unabhängig vom Kontext abhängig von Situation, Umgebung und subjektivem Sicherheitsgefühl
Reizverarbeitung chronisch gestört, alle Reize gleich intensiv übererregt, mit Hypervigilanz (erhöhte Wachsamkeit)
Emotionale Regulation instabil, oft ohne erkennbare Auslöser starke emotionale Reaktionen auf spezifische Trigger, häufig begleitet von Flashbacks
Körperliche Symptome selten im Vordergrund, höchstens durch Stress bedingt häufig: Schlafprobleme, Kopf- oder Bauchschmerzen, Überempfindlichkeit gegenüber Geräuschen oder Berührungen

Zur besseren Einordnung kann helfen:

  • Verlauf: ADHS-Symptome zeigen sich meist konstant über Zeit und Situationen hinweg, während traumaassoziierte Symptome oft wellenartig auftreten oder sich situativ verschärfen.
  • Trigger: Bei ADHS sind Reaktionen oft «aus dem Nichts» wahrnehmbar, bei Trauma klar an bestimmte Auslöser gebunden.
  • Subjektives Sicherheitsempfinden: Trauma-Betroffene zeigen häufig eine übermäßige Wachsamkeit (Hypervigilanz), insbesondere in neuen oder unvorhersehbaren Situationen.

Wichtig: Diese Kriterien sind nicht trennscharf. In vielen Fällen bestehen ADHS und Trauma nebeneinander, das wird in der Fachsprache als Komorbidität bezeichnet. Besonders sogenannte frühkindliche Traumata können ADHS-ähnliche Symptome verstärken oder überlagern. Umso wichtiger ist eine differenzierte, traumasensible Diagnostik durch erfahrene Fachpersonen (Teicher et al., 2016).

Hinweis: Wenn du dir unsicher bist, ob hinter Symptomen wie Impulsivität oder Konzentrationsproblemen ein Trauma steckt, lohnt sich der gezielte Blick auf die Biografie, etwa durch die Frage: «Wann genau haben die Probleme begonnen? Gab es vorher belastende Erlebnisse?»

Was sagt die Forschung?

Ein junger Mann hält sich verzweifelt den Kopf und zeigt sichtbare Spuren von Anspannung an den Händen. Das Bild symbolisiert innere Überforderung, wie sie auch Menschen mit ADHS in der Schweiz im Alltag erleben können. Emotionale Dysregulation und Reizüberflutung sind häufige Begleiterscheinungen.Zahlreiche Studien haben gezeigt, dass frühkindliche Traumata das Risiko für ADHS signifikant erhöhen können. Kinder, die belastende Erfahrungen wie Missbrauch, Vernachlässigung oder emotionale Instabilität im frühen Alter gemacht haben, zeigen häufig neurologische Veränderungen. Diese betreffen insbesondere den präfrontalen Kortex, der für die Steuerung von Aufmerksamkeit, Impulskontrolle und Handlungsplanung zuständig ist, sowie die Amygdala, die emotionale Reize verarbeitet und auf Bedrohung reagiert. Solche Veränderungen können zu Symptomen führen, die stark an ADHS erinnern (Bisson et al., 2013).

Gleichzeitig gibt es immer mehr Hinweise darauf, dass Menschen mit ADHS selbst anfälliger für traumatische Erlebnisse sind. Ihre ausgeprägte Impulsivität, emotionale Reaktivität und Schwierigkeiten in der sozialen Interaktion führen oft dazu, dass sie häufiger in Konflikte geraten oder stigmatisiert werden. Besonders in Schule und Familie können diese wiederkehrenden negativen Erfahrungen zu chronischem Stress führen, und diesen wiederum verarbeitet das Gehirn wie ein Trauma (Bisson et al., 2013).

Diese gegenseitige Beeinflussung bedeutet, dass ADHS sowohl eine mögliche Folge als auch ein Risikofaktor für Traumatisierung sein kann. Dabei verschwimmen die Grenzen zwischen ADHS-Symptomen und Traumafolgestörungen oft. Ein Kind, das sich nicht konzentrieren kann, häufig wütend reagiert oder besonders schreckhaft ist, muss nicht zwingend „nur“ ADHS haben, es könnte sich auch um Traumafolgen oder eine Mischform handeln (Cortese et al., 2018).

Daher ist eine traumasensible Diagnostik besonders wichtig. Sie fragt nicht nur danach, was beobachtbar ist, sondern warum ein bestimmtes Verhalten auftritt. Statt sich allein auf Checklisten zu verlassen, sollte die Lebensgeschichte des Betroffenen einbezogen werden, insbesondere mögliche frühkindliche Belastungen oder familiäre Dynamiken. Nur so lässt sich entscheiden, ob es sich um ADHS, eine Traumafolgestörung, oder beides handelt (Cortese et al., 2018).

ADHS & Trauma in der Therapie

Die gute Nachricht: Sowohl ADHS als auch Traumafolgestörungen sind behandelbar, und zwar oft sehr erfolgreich. Entscheidend ist, nicht nur die sichtbaren Symptome zu behandeln, sondern die individuelle Geschichte eines Menschen ernst zu nehmen. Denn hinter ähnlichen Verhaltensweisen können völlig unterschiedliche Ursachen stecken. Eine gute Therapie berücksichtigt deshalb immer die Lebensrealität, Prägungen und Erfahrungen der betroffenen Person. Besonders wenn Trauma und ADHS gleichzeitig auftreten, braucht es ein integriertes und feinfühliges Vorgehen (Balázs & Keresztény, 2017).

Folgende Therapieansätze haben sich dabei in der Praxis bewährt:

  • Traumatherapie (z. B. EMDR oder PITT): Diese Verfahren ermöglichen es, unverarbeitete oder überwältigende Erlebnisse schonend zu verarbeiten. Ziel ist es, die emotionale Ladung traumatischer Erinnerungen zu reduzieren und das Nervensystem zu stabilisieren (Balázs & Keresztény, 2017).
  • Traumasensible ADHS-Therapie: Hierbei werden klassische Elemente der ADHS-Therapie (wie Struktur, Selbstregulation, Zeitmanagement) mit traumatherapeutischen Zugängen kombiniert. Der Fokus liegt darauf, Überforderungsmomente frühzeitig zu erkennen und ressourcenorientiert zu begleiten (Balázs & Keresztény, 2017).
  • Kognitive Verhaltenstherapie (KVT): Diese Methode hilft, negative Denkmuster zu hinterfragen und hilfreiche Denk- und Verhaltensstrategien zu entwickeln. Besonders wirksam bei Schuld- und Schamgefühlen oder Selbstwertproblemen (Balázs & Keresztény, 2017).
  • Körperorientierte Verfahren: Methoden wie Somatic Experiencing, Yoga, TRE (Tension & Trauma Releasing Exercises) oder achtsamkeitsbasierte Bewegung helfen, das überaktive Nervensystem zu beruhigen. Auch regelmäßige körperliche Aktivität, angepasst an das individuelle Stressempfinden, kann stabilisierend wirken (Balázs & Keresztény, 2017).
  • ADHS-Medikation: Medikamente wie Methylphenidat oder Atomoxetin können bei klar diagnostiziertem ADHS unterstützend wirken. Wichtig ist, dass die medikamentöse Behandlung immer in Kombination mit psychotherapeutischer Begleitung erfolgt, besonders dann, wenn auch traumatische Erfahrungen im Hintergrund stehen (Zhang et al., 2025).

Tipp: Achte bei der Wahl der Therapeutin oder des Therapeuten darauf, dass sowohl ADHS-Kompetenz als auch traumatherapeutisches Wissen vorhanden ist. In der Schweiz gibt es zunehmend Fachpersonen, die beides vereinen, zum Beispiel unter dem Stichwort «adhs trauma therapie» oder «traumasensible Behandlung bei ADHS» (Zhang et al., 2025).

Fazit: Keine Schubladen, sondern Geschichten

Ob ADHS, frühkindliches Trauma oder beides: Es geht nicht darum, Menschen in Diagnosen zu pressen. Vielmehr braucht es ein Verständnis für die Lebensrealität hinter den Symptomen.

Wenn du oder dein Kind ADHS-Symptome zeigst, lohnt sich auch der Blick auf vergangene Belastungen. Denn manchmal verbirgt sich hinter der Unruhe ein Schutzmechanismus, der einst notwendig war. Und der heute geheilt werden darf.

Rezensentenblock

Porträt von Dr. Almedina Berisha, Ärztin im Team von klaro-adhs.ch. Sie unterstützt Patientinnen und Patienten bei der Diagnostik und Therapie von ADHS in der Schweiz. Das Bild zeigt sie im weissen Arztkittel mit Stethoskop vor einem klaro-Hintergrund.

Almedina Berisha

Ärztin Innere Medizin
Almedina Berisha ist Ärztin für Innere Medizin in der Schweiz mit besonderem Interesse an psychosomatischen Zusammenhängen und neurobiologischen Faktoren von ADHS. Sie prüft medizinische Inhalte auf klaro-adhs.ch auf wissenschaftliche Genauigkeit, klinische Relevanz und patientenverständliche Darstellung. Ihr Fokus liegt auf einer praxisnahen Vermittlung komplexer Themen der Erwachsenenmedizin und psychischen Gesundheit.

Häufig gestellte Fragen (FAQ)

  • Ein Trauma kann ADHS nicht direkt verursachen, aber ähnliche Symptome hervorrufen oder bestehende Schwierigkeiten verstärken. Frühkindliche Traumata – etwa emotionale Vernachlässigung, Gewalt oder instabile Familienverhältnisse – können die Entwicklung von Aufmerksamkeits- und Emotionsregulationsstörungen beeinflussen. Studien zeigen, dass betroffene Kinder häufiger ADHS-ähnliche Verhaltensweisen zeigen. Deshalb ist eine traumasensible Diagnostik entscheidend, um ADHS in der Schweiz korrekt von Traumafolgestörungen zu unterscheiden.

Quellenverzeichnis

  1. Spencer, A. E., Faraone, S. V., Bogucki, O. E., Pope, A. L., Uchida, M., Milad, M. R., Spencer, T. J., Woodworth, K. Y., & Biederman, J. (2016). Examining the association between posttraumatic stress disorder and attention-deficit/hyperactivity disorder: A systematic review and meta-analysis. Journal of Clinical Psychiatry, 77(1), 72–83. https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/26114394/
  2. Zhang, N., Gao, M., Yu, J., Zhang, Q., Wang, W., Zhou, C., Liu, L., Sun, T., Liao, X., & Wang, J. (2022). Understanding the association between adverse childhood experiences and subsequent attention deficit hyperactivity disorder: A systematic review and meta-analysis of observational studies. Brain and Behavior, 12, e2748. https://pmc.ncbi.nlm.nih.gov/articles/PMC9575611/
  3. Teicher, M. H., Samson, J. A., Anderson, C. M., & Ohashi, K. (2016). The effects of childhood maltreatment on brain structure, function and connectivity. Nature Reviews Neuroscience, 17(10), 652–666. https://doi.org/10.1038/nrn.2016.111
  4. Bisson, J. I., Roberts, N. P., Andrew, M., Cooper, R., & Lewis, C. (2013). Psychological therapies for chronic post-traumatic stress disorder (PTSD) in adults. Cochrane Database of Systematic Reviews, (12), CD003388. https://www.cochrane.org/evidence/CD003388_psychological-therapies-chronic-post-traumatic-stress-disorder-ptsd-adults 
  5. Cortese, S., Adamo, N., Del Giovane, C., Mohr-Jensen, C., Hayes, A. J., Carucci, S., Zuddas, A., … Cipriani, A. (2018). Comparative efficacy and tolerability of medications for attention-deficit hyperactivity disorder in children, adolescents, and adults: A systematic review and network meta-analysis. The Lancet Psychiatry, 5(9), 727–738. https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/30097390/
  6. Balázs, J., & Keresztény, Á. (2017). Attention-deficit/hyperactivity disorder and suicide: A systematic review. World Journal of Psychiatry, 7(1), 44–59. https://pmc.ncbi.nlm.nih.gov/articles/PMC5371172/
  7. Zhang, L., Zhu, N., Sjölander, A., Nourredine, M., Li, L., Garcia-Argibay, M., Kuja-Halkola, R., Brikell, I., Lichtenstein, P., D’Onofrio, B. M., Larsson, H., Cortese, S., & Chang, Z. (2025). ADHD drug treatment and risk of suicidal behaviours, substance misuse, accidental injuries, transport accidents, and criminality: Emulation of target trials. BMJ, 390, e083658. https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/40803836/

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