Selbstständigkeit mit ADHS: Fluch oder Segen?

Veröffentlicht am: 01. Oktober 2025
Zuletzt ärztlich geprüft am: 07. Oktober 2025

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Porträt von Dr. med. Jens Westphal, Praktischer Arzt FMH und medizinischer Reviewer bei klaro-adhs.ch. Er begleitet Patientinnen und Patienten in der Schweiz bei der Abklärung und Behandlung von ADHS. Das Bild zeigt ihn vor einem klaro-Hintergrund als Teil des ärztlichen Teams für ADHS Schweiz.

Dr. med. Jens Westphal

ADHS-Spezialist und Praktischer Arzt (FMH)
Dr. med. Jens Westphal ist Praktischer Arzt (FMH) mit langjähriger Erfahrung in der hausärztlichen Versorgung und Psychiatrie. Er ist medizinischer Reviewer bei klaro-adhs.ch und prüft alle Inhalte rund um ADHS, Diagnostik und Therapie auf wissenschaftliche Genauigkeit und praktische Umsetzbarkeit in der Schweizer Grundversorgung.

Inhaltsverzeichnis

Viele Menschen mit ADHS träumen von mehr Freiheit im Job und landen früher oder später in der Selbstständigkeit. Die Aussicht, den eigenen Arbeitsalltag selbst zu gestalten, kreative Projekte umzusetzen und sich nicht ständig an externe Vorgaben anpassen zu müssen, erscheint verlockend. Doch die Realität ist oft komplexer. In diesem Artikel zeigen wir dir, warum ADHS und Selbstständigkeit so häufig zusammenkommen, welche Herausforderungen auftreten und wie du deine Stärken gezielt nutzen kannst, um erfolgreich zu sein (Verheul et al., 2018).

  1. Warum ADHS und Selbstständigkeit oft zusammengehören

Studien und Erfahrungsberichte zeigen: Menschen mit ADHS machen sich überdurchschnittlich häufig selbstständig. Und das hat gute Gründe (Verheul et al., 2018).

Typische ADHS-Stärken für Unternehmer:innen:

  • Kreativität und unkonventionelles Denken
  • Leidenschaft für eigene Projekte
  • Flexibilität und hohe Anpassungsfähigkeit
  • Hyperfokus bei starker Begeisterung
  • Mut, Neues auszuprobieren und Risiken einzugehen
  • Schnelle Auffassungsgabe und intuitives Denken

Diese Eigenschaften sind in vielen klassischen Jobs nur begrenzt gefragt, in der Selbstständigkeit hingegen können sie zum entscheidenden Vorteil werden. Ob im kreativen Bereich, im Coaching, Handwerk oder als Solo-Selbstständige im digitalen Bereich: Menschen mit ADHS gründen oft nicht trotz, sondern wegen ihrer Besonderheiten (Verheul et al., 2018).

Zudem schätzen viele ADHS-Betroffene die Möglichkeit, eigene Regeln zu definieren, eigene Projekte zu priorisieren und ihren Arbeitsstil an ihre individuellen Bedürfnisse anzupassen, etwa mit flexiblen Arbeitszeiten oder kreativen Phasen in der Nacht (Verheul et al., 2015).

  1. Die Schattenseite: Stolperfallen der Selbstständigkeit mit ADHSEin Mann sitzt konzentriert auf einem Regiestuhl mit Laptop auf dem Schoss in einem kreativen Arbeitsumfeld mit Studiolicht und Leiter im Hintergrund. Flexible Arbeitsmodelle wie diese bieten Menschen mit ADHS in der Schweiz die Möglichkeit, ihren Beruf individuell zu gestalten.

So sehr die Selbstständigkeit lockt, so gross sind die potenziellen Herausforderungen:

Typische Stolperfallen:

  • Strukturmangel: Ohne klare Strukturen fällt es vielen schwer, den Überblick zu behalten.
  • Prokrastination & Ablenkung: Langweilige Aufgaben wie Buchhaltung oder Verträge werden gerne hinausgeschoben.
  • Impulsivität: Neue Ideen erscheinen oft verlockender als laufende Projekte, mit der Gefahr des ständigen Neuanfangs.
  • Schwierigkeiten mit Routineaufgaben: Was wenig Reiz bietet, fällt besonders schwer.
  • Finanzmanagement: Unregelmässiges Einkommen, fehlender Überblick über Einnahmen und Ausgaben.
  • Überforderung durch Multitasking: Viele Projekte gleichzeitig, aber nichts wird fertig.

Das Resultat: Vielversprechende Projekte werden nicht fertig, Deadlines verstreichen, Stress und Überforderung nehmen zu, manchmal mit dem Risiko des beruflichen Scheiterns.

Ein weiteres Risiko: soziale Isolation. Selbstständigkeit bedeutet oft, allein zu arbeiten. Für Menschen mit ADHS, die von Austausch profitieren, kann das belastend sein (Verheul et al., 2015).

  1. Selbstmanagement mit ADHS: was wirklich hilft

Der Weg in die Selbstständigkeit mit ADHS erfordert ein gutes Selbstmanagement, und realistische Erwartungen.

Konkrete Strategien, die sich bewährt haben:

  • Tagesstruktur schaffen: Feste Arbeitszeiten, klare Morgenroutinen, wöchentliche Planungen.
  • Externe Hilfen nutzen: Buchhaltung outsourcen, Termine mit Business-Coach oder ADHS-Therapeut:in vereinbaren.
  • Projektmanagement-Tools verwenden: Tools wie Trello, Notion oder Todoist helfen, Prioritäten zu setzen.
  • Verbindlichkeit schaffen: Mit Co-Working-Buddys oder einem Accountability-Partner gemeinsam planen und reflektieren.
  • Impulse notieren, nicht sofort umsetzen: So werden Ideen nicht vergessen – aber auch nicht ständig zur Ablenkung.
  • Pausen aktiv einbauen: Besser 90 Minuten produktiv als 4 Stunden planlos.
  • Routinen automatisieren: Feste Tage für Buchhaltung, Marketing oder Akquise einführen.

Auch Apps und Coaching-Angebote für ADHS-Selbstständige in der Schweiz, z. B. via ADHS Coach Bern, können wertvolle Unterstützung bieten.

Tipp: Wer Schwierigkeiten beim Start hat, kann sich auch begleitet selbstständig machen, z. B. über Programme zur beruflichen Wiedereingliederung, sozialunternehmerische Netzwerke oder berufliche Integrationsmassnahmen mit ADHS-Fokus (Jangmo et al., 2021).

  1. Wann ist Selbstständigkeit trotz ADHS sinnvoll und wann nicht?

Eine Person hält eine Ausgabe des „foundr“-Magazins mit Richard Branson auf dem Titel in der Hand, während im Hintergrund Menschen an Laptops arbeiten. Die Szene steht sinnbildlich für Unternehmertum und kreative Selbstverwirklichung – eine häufig gewählte berufliche Richtung bei ADHS in der Schweiz.Nicht jede ADHS-Diagnose macht Selbstständigkeit zur besten Wahl (“ADHD and occupational outcomes”, n.d.). Entscheidend sind:

  • Dein Symptomprofil (z. B. stark unaufmerksamer Subtyp vs. impulsiv-hyperaktiv)
  • Deine Selbstmanagement-Fähigkeiten
  • Dein soziales Umfeld (Unterstützung durch Partner:in, Familie, Netzwerk?)
  • Deine Vorerfahrungen in Organisation, Zeit- und Finanzplanung

Indikatoren für einen guten Start:

  • Du hast bereits kleinere Projekte erfolgreich abgeschlossen.
  • Du kennst deine typischen ADHS-Herausforderungen und arbeitest aktiv daran.
  • Du holst dir gezielt Hilfe (Coach, Buchhalter:in, Assistenz).
  • Du hast eine klare Geschäftsidee und erste Kund:innenkontakte.

Warnzeichen:

  • Du fühlst dich ständig überfordert.
  • Du vermeidest Aufgaben systematisch (z. B. Rechnungen, Kund:innenkontakt).
  • Du wechselst ständig zwischen Ideen und verlierst den Fokus.
  • Du beginnst Projekte euphorisch, verlierst aber schnell die Motivation.
  • Du hast keinen Plan B, falls die Selbstständigkeit nicht funktioniert.
  1. Fazit: Selbstständigkeit mit ADHS: kein leichter Weg, aber möglich

Mit ADHS selbstständig zu arbeiten bedeutet oft mehr Arbeit am eigenen System als am Unternehmen selbst. Aber: Wer es schafft, seine Stärken zu erkennen, Routinen zu etablieren und sich Unterstützung zu holen, kann nicht nur bestehen, sondern aufblühen (“ADHD and occupational outcomes”, n.d.).

Unser Tipp: Hol dir Unterstützung. Ob durch eine Selbsthilfegruppe, einen ADHS Job Coach, eine strukturierte Berufsberatung oder eine ADHS-sensible Businessberatung, mit dem richtigen Team kannst du deinen Weg gehen.

Denn letztlich gilt: ADHS ist keine Schwäche, sondern ein anderes Betriebssystem. Und mit den passenden Tools kannst du dein Business genauso gut steuern wie jede:r andere.

Wenn du es schaffst, deine Energie zu bündeln, dich mit Gleichgesinnten zu vernetzen und deinem Arbeitsalltag klare Strukturen gibst, dann kann Selbstständigkeit für dich nicht nur ein realistischer Weg sein, sondern ein Weg in mehr Zufriedenheit, Selbstbestimmung und beruflichen Erfolg (Hotte-Meunier, 2024).

Weitere Tipps, Ressourcen und Kontakte folgen im nächsten Teil unserer Serie „ADHS & Selbstständigkeit“, bald mehr auf klaro-adhs.ch.

Rezensentenblock

Porträt von Dr. Almedina Berisha, Ärztin im Team von klaro-adhs.ch. Sie unterstützt Patientinnen und Patienten bei der Diagnostik und Therapie von ADHS in der Schweiz. Das Bild zeigt sie im weissen Arztkittel mit Stethoskop vor einem klaro-Hintergrund.

Almedina Berisha

Ärztin Innere Medizin
Almedina Berisha ist Ärztin für Innere Medizin in der Schweiz mit besonderem Interesse an psychosomatischen Zusammenhängen und neurobiologischen Faktoren von ADHS. Sie prüft medizinische Inhalte auf klaro-adhs.ch auf wissenschaftliche Genauigkeit, klinische Relevanz und patientenverständliche Darstellung. Ihr Fokus liegt auf einer praxisnahen Vermittlung komplexer Themen der Erwachsenenmedizin und psychischen Gesundheit.

Häufig gestellte Fragen (FAQ)

  • Menschen mit ADHS fühlen sich in Berufen wohl, die Abwechslung, Kreativität und Eigenverantwortung bieten. Besonders geeignet sind Tätigkeiten mit Raum für Ideen und Dynamik – etwa in Design, Kommunikation, Handwerk, Gastronomie, Coaching, IT, Pflege oder im Eventbereich. Entscheidend ist, dass die Arbeit den eigenen Interessen entspricht und nicht durch starre Strukturen oder monotone Routinen geprägt ist. Viele Betroffene blühen in Positionen auf, in denen sie selbst gestalten und spontan agieren können.

Quellenverzeichnis

  1. Verheul, I., Block, J., Burmeister-Lamp, K., Carree, M., Das, M., Hessels, J., & Stam, E. (2018). Entrepreneurship and attention deficit/hyperactivity disorder: A large-scale study involving the clinical condition of ADHD. Small Business Economics, 51(4), 1005–1022. https://link.springer.com/article/10.1007/s11187-018-0061-1
  2. Verheul, I., Wennekers, S., Audretsch, D. B., & Thurik, R. (2015). Exploring the association between attention-deficit/hyperactivity symptoms and entrepreneurial intentions and actions. Journal of Business Venturing, 30(5), 610–627. https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC8023171/
  3. Jangmo, A., Kuja-Halkola, R., Pérez-Vigil, A., Almqvist, C., Bulik, C. M., D’Onofrio, B., & Lichtenstein, P. (2021). Attention-deficit/hyperactivity disorder and occupational outcomes: The role of educational attainment, comorbid developmental disorders, and intellectual disability. PLoS ONE, 16(3), e0247724. https://doi.org/10.1371/journal.pone.0247724 
  4. “Attention-deficit/hyperactivity disorder and occupational outcomes.” (n.d.). Frontiers / PMC. https://pmc.ncbi.nlm.nih.gov/articles/PMC7968636/
  5. Hotte-Meunier, A. (2024). Strengths and challenges to embrace attention- deficit / hyperactivity. Journal / SAGE. https://journals.sagepub.com/doi/10.1177/27546330241287655

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