Warum Zeitmanagement bei ADHS eine besondere Herausforderung ist
Menschen mit ADHS erleben Zeit nicht linear. Während viele andere Menschen mit Begriffen wie „gleich“, „bald“ oder „in 10 Minuten“ planen können, existieren bei ADHS oft nur zwei Zustände: Jetzt und nicht jetzt. Diese sogenannte Zeitblindheit bedeutet, dass zukünftige Ereignisse schwer greifbar und oft auch nicht emotional „fühlbar“ sind. Was nicht im unmittelbaren Fokus steht, rückt aus dem Bewusstsein, egal, wie wichtig es ist (García-Banda et al., 2023).
Die Folge: Termine werden vergessen, Aufgaben verschoben, Fristen verpasst. Gleichzeitig kommt es zu intensiven „Hyperfokus-Phasen“, in denen alles andere ausgeblendet wird. Viele ADHS-Betroffene berichten von einem Gefühl, als würde die Zeit entweder rasen oder komplett stillstehen, je nachdem, wie sehr sie emotional oder geistig in eine Tätigkeit eingebunden sind (García-Banda et al., 2023).
Diese verzerrte Zeitwahrnehmung ist kein persönliches Versagen, sondern ein neurologisches Merkmal von ADHS. Genau deshalb sind Strategien nötig, die Zeit strukturieren, visualisieren und erfahrbar machen, möglichst ohne ständige Selbstdisziplin (García-Banda et al., 2023).
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Die Salami-Taktik: Komplexe Aufgaben in kleine Scheiben schneiden
ADHS geht oft mit einem Gefühl der Überforderung einher. Große Aufgaben wirken wie unüberwindbare Berge, was häufig zu Vermeidung oder Aufschieberitis (Prokrastination) führt. Die Salami-Taktik hilft, solche Aufgaben scheibchenweise zu bewältigen. Jede Scheibe ist ein klar definierter Schritt, den das Gehirn besser verarbeiten kann (Brown, 2013).
Beispiel: Bewerbung schreiben
- Lebenslauf aktualisieren
- Foto auswählen
- Anschreiben gliedern
- Einleitung formulieren
- Firma recherchieren
- Endkorrektur & PDF erstellen
- Hochladen & Absenden
Warum es funktioniert:
ADHS-Gehirne brauchen schnelle Erfolgserlebnisse. Kleine Teilschritte liefern diese, und motivieren, weiterzumachen. Der Fokus liegt dabei immer nur auf dem nächsten Schritt, nicht auf dem großen Ganzen. Dadurch sinkt der innere Widerstand (Brown, 2013).
Tipp: Nutze ein analoges Board oder eine App wie Trello, um visuell zu sehen, was bereits geschafft ist.
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Der TimeTimer: Sichtbare Zeit gegen Zeitblindheit

Die wenigsten ADHS-Betroffenen haben ein verlässliches Gefühl dafür, wie viel Zeit wirklich vergeht. Während sie sich in einer Aufgabe verlieren, vergeht oft eine Stunde wie im Flug, oder fünf Minuten fühlen sich wie eine halbe Ewigkeit an, wenn die Tätigkeit langweilig ist. Diese fehlende Zeitkontrolle macht verlässliche Planung nahezu unmöglich (Brown, 2013).
Ein visuelles Hilfsmittel wie der TimeTimer zeigt in Farbe oder durch einen sich bewegenden Balken, wie viel Zeit noch verbleibt. Im Gegensatz zu digitalen Ziffern ist die Veränderung hier visuell greifbar und damit auch emotional spürbar (Brown, 2013).
Anwendungsmöglichkeiten:
- 30-Minuten-Sprints für konzentriertes Arbeiten
- 5-Minuten-Regel für unangenehme Aufgaben
- 10-Minuten-Zeitfenster für Social Media oder Nachrichten
Besonderer Tipp:
Nutze unterschiedliche Timer für verschiedene Aufgabenbereiche, z. B. einen roten Timer für Arbeitszeit und einen grünen für Pausen. Auch Vibrations-Timer fürs Handgelenk oder akustische Signale sind hilfreich, um in den Moment zurückgeholt zu werden (Brown, 2013).
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Die 2-Minuten-Regel: Prokrastination sofort stoppen
Diese Regel stammt aus dem Produktivitätsklassiker „Getting Things Done“ von David Allen und sie funktioniert besonders gut bei ADHS. Die Idee ist simpel: Wenn du eine Aufgabe in unter zwei Minuten erledigen kannst, tu es sofort. Der Vorteil: Diese kleinen Aufgaben verschwinden sofort von der Liste und belasten nicht weiter dein Gedächtnis (Brown, 2013).
Beispiele:
- Glas in die Küche bringen
- Termin im Kalender eintragen
- E-Mail mit „Ja“ oder „Nein“ beantworten
- Medikamente einnehmen
- Rückruf machen
Warum das hilft:
Das ADHS-Gehirn liebt Dopamin und jedes kleine Erfolgserlebnis schüttet davon ein bisschen aus. Außerdem verhindert diese Methode das Anhäufen von Miniaufgaben, die später als großer Aufgabenberg wahrgenommen werden (Brown, 2013).
Wichtig:
Wenn du die Aufgabe mehrfach wiederholst (z. B. „jeden Morgen Tabletten nehmen“), dann überlege dir ein Ritual oder einen festen Platz, um es automatisiert in deinen Alltag zu integrieren – z. B. Tablettenbox neben die Zahnbürste.
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Die ABC-Methode: Prioritäten sichtbar machen
Wer mit ADHS lebt, kennt das Gefühl: Alle Aufgaben sind gleichzeitig da, laut und dringend. Der Kopf fühlt sich an wie ein To-Do-Karussell. Die ABC-Methode hilft, diese Aufgaben zu sortieren – nach Wichtigkeit und Dringlichkeit (Brown, 2013).
So funktioniert’s:
- A-Aufgaben = Hoch wichtig & dringend (z. B. Frist, Arzttermin)
- B-Aufgaben = Wichtig, aber nicht dringend (z. B. Sport, Weiterbildung)
- C-Aufgaben = Nett, aber nicht wichtig (z. B. Instagram-Profil aufräumen)
Täglicher Tipp:
Mach morgens eine 3-Minuten-Planung:
- Liste alle Aufgaben auf
- Kategorisiere nach ABC
- Starte mit einer einzigen A-Aufgabe
Warum es funktioniert:
Die Methode hilft, Klarheit zu schaffen und unnötigen Stress zu reduzieren. Sie zwingt das Gehirn, Prioritäten zu erkennen, etwas, das bei ADHS sonst intuitiv schwer fällt (Barkley & Fischer, 2021).
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Der Roboter-Modus: Automatisieren statt analysieren
Entscheidungsmüdigkeit ist ein riesiges Thema bei ADHS. Schon morgens kann das Überlegen, was man zuerst macht, Energie rauben. Der Roboter-Modus bedeutet: Einfach machen, ohne zu hinterfragen (Barkley & Fischer, 2021).
Statt zu diskutieren („Soll ich jetzt wirklich die Küche aufräumen?“), wird eine Routine etabliert:
„Morgens nach dem Kaffee 10 Minuten Küche, Punkt.“
Weitere Beispiele:
- Wäsche waschen = immer Montagmorgen
- Buchhaltung = immer Freitag 15 Uhr
- Spazierengehen = direkt nach dem Mittagessen
Tipp:
Arbeite mit Checklisten und kleb sie sichtbar auf, z. B. an den Kühlschrank, Badezimmerspiegel oder Laptop (Barkley & Fischer, 2021).
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Bitte-nicht-stören-Technik, Fokus in einer reizüberfluteten Welt
Menschen mit ADHS reagieren besonders empfindlich auf Reize, und verlieren sich oft in Ablenkungen. Selbst ein Vogel am Fenster oder eine WhatsApp-Nachricht kann den Fokus sprengen. Die „Bitte-nicht-stören-Technik“ hilft, sich gezielt gegen Reize abzuschirmen (Barkley et al., 2018).
Konkrete Maßnahmen:
- Handy in den Flugmodus (oder in ein anderes Zimmer)
- „Bitte nicht stören“-Schild oder Fokus-Licht
- Arbeitsumgebung reduzieren: Nur ein Vorgang auf dem Schreibtisch
- Noise-Cancelling-Kopfhörer oder Ohrstöpsel
Innere Ablenkungen?
Schreib aufkommende Gedanken auf ein „Ablenkungsblatt», so sind sie gespeichert, aber du kannst trotzdem weiterarbeiten (Gupta et al., 2025).
Tipp:
Nutze Fokus-Apps wie „Forest“, bei denen du während des konzentrierten Arbeitens einen virtuellen Baum pflanzt, verlässt du die App, stirbt der Baum (Gupta et al., 2025).
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Zeit für Pausen einplanen: Energiehaushalt steuern
Bei ADHS ist der mentale Energiehaushalt oft dysreguliert. Entweder es geht gar nichts, oder man ist im Hyperfokus gefangen. Regelmässige, kurze Pausen helfen, die Aufmerksamkeitsspanne zu verlängern, emotionale Reizbarkeit zu senken und Erschöpfung vorzubeugen (Barkley et al., 2018).
Beispiel-Zeiten:
- Alle 25 Minuten 5 Minuten Pause (Pomodoro-Technik)
- Nach 4 Arbeitsphasen: 30 Minuten echte Erholung
- Alle 2 Stunden: 10 Minuten Bewegung (z. B. Dehnen, Lüften, Treppen steigen)
Pausenideen:
- Kurze Atemübung (z. B. 4-7-8-Technik)
- Lieblingslied hören
- Tee kochen
- 5-4-3-2-1-Achtsamkeitsübung (siehe oben)
Wichtig: Pausen sind keine Belohnung, sie sind Teil des Systems!
Fazit: Zeitmanagement bei ADHS ist lernbar: mit Geduld und Struktur
Zeitmanagement bei ADHS funktioniert nicht mit starren Systemen oder Disziplinparolen. Es braucht kreative Strategien, visuelle Hilfen, Routinen und ein gutes Maß an Selbstakzeptanz. Fang klein an – ein Timer, eine Liste, ein Ritual – und entwickle daraus dein eigenes System. Du wirst merken: Dranbleiben lohnt sich.
FAQ – Zeitmanagement bei ADHS
Wie hilft ein Timer bei ADHS wirklich?
Er macht Zeit sichtbar. Das ist zentral, weil ADHS-Betroffene Zeit nicht intuitiv wahrnehmen. Der Timer holt dich zurück in den Moment und hilft, besser zu planen.
Warum ist Planen für ADHS so schwer?
Weil das Arbeitsgedächtnis überlastet ist, emotionale Impulse überwiegen und Zukunft schlecht „gefühlt“ werden kann. Deshalb sind visuelle und externe Planungsstrukturen wichtig.
Welche Apps sind geeignet?
Empfehlenswert sind:
- Forest (Fokus-Timer)
- TimeTimer (visuelle Zeit)
- Todoist / Notion (Aufgaben)
- Trello (visuelles Projektboard)
Wie bleibe ich langfristig dran?
Mit Belohnungen, kleinen Erfolgen, Routinen und, ganz wichtig, der Erlaubnis, auch mal neu anzufangen. ADHS ist kein Sprint, sondern ein Marathon in deinem eigenen Tempo.
