ADHS betrifft nie nur eine Person, sondern immer das ganze Familiensystem. Wenn ein Familienmitglied, ob Kind oder Erwachsene:r, ADHS hat, steht oft die gesamte Familie vor besonderen Herausforderungen. Unruhe, Konflikte, Überforderung und Missverständnisse sind häufige Begleiterscheinungen. Doch es gibt auch viele Möglichkeiten, wie Angehörige unterstützend wirken und den Alltag harmonischer gestalten können, und sogar selbst daran wachsen können (Uchida et al., 2022).
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ADHS verstehen: der erste Schritt zur Entlastung
Je besser Angehörige über ADHS informiert sind, desto leichter fällt es, Verhaltensweisen richtig einzuordnen. Wutausbrüche, Vergesslichkeit oder starke Emotionen sind keine „Absicht“, sondern Teil der neurobiologischen Besonderheiten (Faraone & Larsson, 2019).
Hilfreiche Angebote zur Aufklärung:
- Bücher und Podcasts wie z. B. der „ADHS Family Podcast“ oder Fachliteratur für Eltern und Partner:innen
- Beratungsstellen und Fachstellen in der Schweiz (z. B. elpos, Pro Juventute oder ADHS-Fachstellen Zürich/Basel)
- Austausch in ADHS Selbsthilfegruppen für Familien – auch online immer häufiger verfügbar
- Online-Seminare, Webinare oder Vorträge mit Expert:innen
- Informationsveranstaltungen in Schulen, Vereinen oder Quartierzentren
Tipp: Je mehr Familienmitglieder mit einbezogen werden, desto besser gelingt langfristige Entlastung. Auch Jugendliche und ältere Kinder können lernen, sich selbst besser zu verstehen und so Missverständnisse zu verringern (Faraone & Larsson, 2019).
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Kommunikation & Konflikte: Verständnis statt Vorwurf
Konflikte mit ADHS Betroffenen entstehen oft durch Missverständnisse oder fehlende Regulation. Wichtig ist, eine Sprache zu finden, die deeskaliert und gleichzeitig klare, aber faire Grenzen setzt (de la Torre-Luque et al., 2020).
Tipps für den Alltag:
- Verwende kurze, klare Anweisungen statt komplexer Erklärungen
- Wiederhole wichtige Informationen freundlich und geduldig
- Gib mehr Zeit für Antworten oder Handlungen
- Vermeide ständige Kritik, lobe stattdessen gezielt positives Verhalten
- Nutze Ich-Botschaften, um Gefühle mitzuteilen, ohne zu verletzen
- Halte Blickkontakt, sprich in ruhigem Ton und vermeide ironische Kommentare
Besonders hilfreich: Eine gemeinsame Familienstrategie, bei der alle an einem Strang ziehen, inklusive Grosseltern, Geschwistern oder anderen Betreuungspersonen. Gemeinsame Vereinbarungen reduzieren Spannungen (de la Torre-Luque et al., 2020).
Zusätzliche Ideen:
- Familienregeln sichtbar aufschreiben und regelmässig reflektieren
- Rituale wie Wochenrückblicke oder Familienkonferenzen fördern Austausch
- Belohnungssysteme nicht nur für Kinder, auch kleine Anerkennungen für Eltern oder Geschwister stärken das Miteinander
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Struktur und Vorhersehbarkeit: Stabilität schaffen
ADHS bedeutet oft, dass Routinen schwerfallen. Angehörige können helfen, indem sie den Alltag strukturieren und Orientierung bieten. Struktur wirkt dabei wie ein Kompass im Alltag – sie schafft Sicherheit und reduziert Überforderung (Cueli et al., 2024).
Beispiele für sinnvolle Strukturen:
- Feste Zeiten für Mahlzeiten, Hausaufgaben und Schlaf
- Visuelle Tagespläne (z. B. mit Piktogrammen, Magnettafeln oder Apps)
- Rituale und feste Abläufe, z. B. abends immer dieselbe Einschlafreihenfolge
- Vorbereitungszeit für Übergänge (z. B. von Spielen zum Abendessen)
- Wochenplan mit Aufgabenverteilung für alle Familienmitglieder
Auch Erwachsene mit ADHS profitieren enorm von Verlässlichkeit und einer ruhigen Umgebung, sei es in der Partnerschaft oder im gemeinsamen Eltern-Alltag. Wichtig ist, gemeinsam erarbeitete Strukturen flexibel zu halten, damit sie nicht als Zwang empfunden werden (Cueli et al., 2024).
Tools, die unterstützen können:
- Digitale Kalender mit Erinnerungsfunktionen
- To-Do-Listen-Apps mit Belohnungssystemen
- Timer oder visuelle Zeitmesser, z. B. Time-Timer
- Checklisten für wiederkehrende Aufgaben (z. B. Morgens- oder Abendroutine)
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Die Rolle der Eltern: Leuchtturm in stürmischer See
Besonders bei betroffenen Kindern sind Eltern zentrale Bezugspersonen. Ihre Reaktionen und ihre emotionale Präsenz prägen das Verhalten des Kindes entscheidend. Kinder mit ADHS brauchen Erwachsene, die Ruhe und Orientierung geben, auch wenn es nicht immer leicht ist (Brikell et al., 2019).
Wichtige Strategien:
- Nicht alles persönlich nehmen: ADHS ist keine Erziehungsfrage
- Grenzen setzen, aber empathisch und begründet
- Durchatmen statt sofort reagieren: Gelassenheit wirkt oft Wunder
- Lob, Humor und gemeinsame Zeit fördern die Bindung, trotz Stress
- Realistische Erwartungen setzen und eigene Fehler verzeihen
Zusätzliche Tipps:
- Elternpaare sollten sich regelmässig austauschen, gemeinsame Lösungen finden und sich gegenseitig stärken
- Auch getrennt lebende Eltern sollten versuchen, möglichst konsistent zu handeln, ohne sich gegenseitig zu entwerten
- Kurze Auszeiten für Eltern, z. B. durch Entlastung von aussen, sind kein Luxus, sondern notwendig, um langfristig stabil zu bleiben
Impuls: Manchmal hilft es schon, 10 Minuten pro Tag bewusst in Ruhe mit dem Kind zu verbringen, ganz ohne Erwartungen oder Erziehung. Diese wertvolle Zeit stärkt Vertrauen und Nähe (Brikell et al., 2019).
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Hilfe annehmen: entlastet alle Beteiligten
ADHS stellt hohe Anforderungen an das gesamte Umfeld. Umso wichtiger ist es, dass Angehörige sich selbst nicht vergessen und Unterstützung suchen, ohne Scham oder Schuldgefühle (Brikell et al., 2019).
Mögliche Unterstützungsangebote:
- Familiencoaching oder Elterntraining, auch online verfügbar
- Austausch mit anderen Betroffenen (z. B. über die ADHS-Family-Plattform oder elpos)
- Beratung durch Psycholog:innen, Sozialpädagog:innen oder Fachstellen
- Familienhilfe, falls die Belastung sehr hoch ist (z. B. via Jugendhilfe)
- Temporäre Entlastung durch Tagesstrukturen oder betreute Freizeitangebote
- Selbsthilfegruppen vor Ort oder Online-Foren
Auch Grosseltern, Paten oder Freunde können wichtige Unterstützer sein, sie bieten nicht nur Entlastung im Alltag, sondern auch eine andere Perspektive (Brikell et al., 2019).
Denk daran: Wer gut für sich selbst sorgt, kann auch besser für andere da sein. Selbstfürsorge ist keine Schwäche, sondern Voraussetzung für langfristige Stabilität.
Tipp: Auch ein „Familientagebuch“ oder „ADHS-Journal“ kann helfen, Fortschritte, Herausforderungen und emotionale Prozesse besser zu reflektieren und gemeinsam zu besprechen.
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Gemeinsam wachsen: als Familie zusammenhalten
ADHS bringt Herausforderungen, aber auch Chancen für persönliche Entwicklung und engere Beziehungen. Wenn Familien lernen, gemeinsam mit den Besonderheiten umzugehen, kann daraus eine neue Qualität des Miteinanders entstehen (Pingault et al., 2022).
So kann die Familie profitieren:
- Mehr Empathie und Toleranz im Umgang miteinander
- Besseres Verständnis für neurodiverse Denkweisen
- Stärkere Bindung durch gemeinsam gemeisterte Situationen
- Entwicklung neuer Rituale, die Halt und Orientierung geben
- Gemeinsames Lernen über Emotionen, Grenzen und Selbstfürsorge
Krisen können zusammenschweissen, wenn alle Beteiligten offen und respektvoll miteinander umgehen. Eine offene Kommunikation über Belastungen und Bedürfnisse hilft, Überforderung zu vermeiden und Lösungen gemeinsam zu finden (Pingault et al., 2022).
Unser Tipp: Schaffe regelmässig Raum für schöne gemeinsame Erlebnisse. Ob Ausflug, Spieleabend oder einfach zusammen lachen, positive Momente stärken das Miteinander.
Zusätzlicher Impuls: Auch kreative Methoden wie gemeinsame Fotobücher, Dankbarkeitsrituale oder eine Familienwand mit Erfolgen und Fortschritten können helfen, den Fokus auf das Positive zu richten. Die Sicht auf Stärken statt Defizite wirkt entlastend und motivierend (Pingault et al., 2022).
Fazit: Unterstützung beginnt mit Verständnis
Familienleben mit ADHS ist herausfordernd, aber nicht aussichtslos. Mit Offenheit, Wissen, gegenseitigem Respekt und einem guten Netzwerk kann ein stabiles, liebevolles Miteinander gelingen, auch wenn der Weg manchmal steinig ist.
Nutze Angebote wie Selbsthilfegruppen, den ADHS Family Podcast, elpos oder professionelle Beratungsstellen in der Schweiz, um dich zu stärken.
Denn eines ist sicher: Niemand muss diesen Weg allein gehen. Es gibt Unterstützung und es lohnt sich, sie anzunehmen.