Menschen mit ADHS haben nicht nur tagsüber mit Konzentrationsproblemen und Reizoffenheit zu kämpfen, auch abends, wenn eigentlich Ruhe einkehren sollte, läuft das Gehirn oft auf Hochtouren. Der Körper ist zwar müde, doch der Kopf scheint hellwach zu sein. Die Gedanken kreisen, das Herz schlägt schneller, und innere Unruhe macht sich breit. Das Einschlafen wird zur Geduldsprobe, und zur täglichen Herausforderung (Díaz-Román et al., 2018).
Einschlafprobleme gehören zu den häufigsten Begleiterscheinungen bei ADHS. Sie betreffen nicht nur Erwachsene, sondern auch viele Kinder und Jugendliche. Studien zeigen, dass etwa 60–70 % der Erwachsenen mit ADHS unter Ein- oder Durchschlafstörungen leiden. Bei jüngeren Betroffenen ist der Anteil ähnlich hoch, mit erheblichen Auswirkungen auf Stimmung, Leistungsfähigkeit und die familiäre Belastung (Díaz-Román et al., 2018).
Die Gründe für diese Schlafprobleme sind vielfältig:
- Gestörter Schlaf-Wach-Rhythmus: Viele Betroffene haben eine verzögerte innere Uhr und fühlen sich erst spät am Abend müde.
- Grübelzwang & emotionale Unruhe: Gedanken kreisen unaufhörlich, vor allem, wenn der Alltag zur Ruhe kommt.
- Sensorische Reizoffenheit: Geräusche, Licht oder körperliche Empfindungen werden stärker wahrgenommen.
- Nebenwirkungen von ADHS-Medikamenten: Je nach Präparat kann der Schlaf beeinträchtigt sein.
- Psychische Komorbiditäten: Angst, Depressionen oder chronischer Stress verstärken die Einschlafprobleme zusätzlich.
Die Auswirkungen zeigen sich auf mehreren Ebenen:
- Körperlich: Erschöpfung, Kopfschmerzen, Konzentrationsprobleme.
- Psychisch: Gereiztheit, emotionale Instabilität, Überforderung.
- Sozial: Konflikte im Familien- oder Arbeitsalltag durch Müdigkeit und Reizbarkeit.
Doch es gibt Wege aus diesem Teufelskreis. Mit dem richtigen Wissen, alltagstauglichen Strategien und, wenn nötig, professioneller Begleitung kann sich die Schlafqualität deutlich verbessern. In diesem Artikel zeigen wir dir, was wirklich hilft: verständlich erklärt, wissenschaftlich fundiert und direkt umsetzbar (Díaz-Román et al., 2018).
Warum Menschen mit ADHS schlechter einschlafen
Menschen mit ADHS haben oft Schwierigkeiten, abends zur Ruhe zu kommen. Das liegt nicht an mangelnder Disziplin oder schlechter Schlafhygiene, sondern ist tief in der Funktionsweise ihres Gehirns verankert. Die Fähigkeit zur Selbstregulation ist bei ADHS eingeschränkt, das betrifft nicht nur Aufmerksamkeit und Impulssteuerung, sondern auch den Schlaf-Wach-Rhythmus. Abends, wenn eigentlich Entspannung anstehen sollte, erleben viele Betroffene eine Phase erhöhter innerer Unruhe oder emotionaler Aufgewühltheit (Díaz-Román et al., 2018).
Die häufigsten Ursachen auf einen Blick:
- Verzögerte Ausschüttung von Melatonin
Das körpereigene Schlafhormon Melatonin wird bei ADHS-Betroffenen oft erst deutlich später freigesetzt. Die innere Uhr ist verschoben – medizinisch spricht man vom «Delayed Sleep Phase Syndrome». Das Einschlafen verzögert sich, der Tag beginnt am nächsten Morgen trotzdem früh – ein Schlafdefizit ist vorprogrammiert (van Veen et al., 2010). - Erhöhte Reizoffenheit
Geräusche, Licht oder Gedanken werden intensiver wahrgenommen. Wo andere Menschen langsam abschalten, analysieren und reagieren ADHS-Betroffene weiterhin auf kleinste Reize. Das erschwert das Loslassen und fördert Unruhe (van Veen et al., 2010). - Emotionale Nachwirkungen
Emotionen und Konflikte des Tages wirken bei ADHS oft noch lange nach. Ein Streit, eine unangenehme E-Mail oder ein misslungenes Gespräch lassen sich schwer abschütteln. Das emotionale System bleibt in Alarmbereitschaft (van Veen et al., 2010). - Mentale Hyperaktivität
Auch wenn der Körper müde ist, bleibt der Kopf wach. Gedanken springen von Thema zu Thema. Das sogenannte Gedankenkarussell nimmt Fahrt auf – und macht den Einstieg in den Schlaf besonders schwer (van Veen et al., 2010).
Diese Mechanismen sind neurobiologisch erklärbar und keineswegs Ausdruck von Willensschwäche. Sie machen deutlich, warum klassische Schlaf-Tipps bei ADHS oft nicht ausreichen (van Veen et al., 2010).
Wichtig zu wissen:
- ADHS-bedingte Schlafprobleme sind nicht selbstverschuldet (van Veen et al., 2010).
- Sie lassen sich mit gezielten Strategien spürbar verbessern (van Veen et al., 2010).
- Der erste Schritt ist das Verständnis der Ursachen, und genau damit bist du bereits auf einem guten Weg (van Veen et al., 2010).
Im nächsten Abschnitt zeigen wir dir, mit welchen konkreten Methoden du besser zur Ruhe kommst, Schritt für Schritt und praxistauglich (van Veen et al., 2010).
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Den Schlafrhythmus stabilisieren
Viele ADHS-Betroffene sind „Nachteulen“. Sie sind abends geistig besonders aktiv, kommen schwer zur Ruhe und schlafen meist erst nach Mitternacht ein. Morgens fühlen sie sich wie gerädert – selbst nach ausreichend Schlafstunden. Dahinter steckt oft ein verschobener Schlaf-Wach-Rhythmus, auch bekannt als Delayed Sleep Phase Syndrome (DSPS). Der biologische Tag-Nacht-Zyklus ist aus dem Gleichgewicht geraten, mit Folgen für Konzentration, Stimmung und Leistungsfähigkeit (van Andel et al., 2021).
Eine gezielte Stabilisierung des Schlafrhythmus kann helfen, den Körper wieder in einen natürlichen Takt zu bringen. Diese Tipps unterstützen dich dabei:
- Feste Aufstehzeit – auch am Wochenende: Die innere Uhr braucht Regelmässigkeit. Wer täglich zur gleichen Zeit aufsteht, selbst am Wochenende, signalisiert dem Körper: Der Tag beginnt jetzt. Das wirkt sich positiv auf den gesamten Rhythmus aus.
- Licht am Morgen, Dunkelheit am Abend: Natürliches Licht am Morgen unterdrückt die Melatonin-Produktion und macht wach. Daher: Morgens direkt Vorhänge auf oder kurz rausgehen. Am Abend hingegen: Lichtquellen dimmen, keine grellen Deckenlampen oder Bildschirmstrahlung.
- Keine Nickerchen nach 16 Uhr: Powernaps können zwar erfrischend sein – aber nur bis zum Nachmittag. Wer zu spät schläft, verschiebt sein Schlafbedürfnis nach hinten und verstärkt das DSPS-Problem.
- Rituale zur Schlafenszeit: Feste Abläufe helfen dem Gehirn, in den Ruhemodus zu wechseln. Zum Beispiel: Zähneputzen → Schlafanzug anziehen → ein Kapitel lesen → Licht aus. Wichtig ist: jeden Abend gleich.
- Medienkonsum begrenzen: Gerade ADHS-Betroffene neigen dazu, sich abends in Videos, Games oder Chats zu verlieren. Bildschirme hemmen durch ihr Licht die Melatonin-Ausschüttung zusätzlich. Daher: mindestens 60 Minuten vor dem Schlafengehen bildschirmfrei bleiben.
Zusätzlicher Tipp:
- Lichttherapie: Eine 20- bis 30-minütige Bestrahlung mit einer Tageslichtlampe (mind. 10.000 Lux) direkt nach dem Aufstehen kann helfen, die innere Uhr zu resetten.
- Melatonin-Gabe: In Absprache mit dem Arzt kann eine niedrig dosierte Melatonin-Gabe abends die Einschlafzeit verkürzen, insbesondere bei Jugendlichen mit stark verschobenem Rhythmus.
Ein stabiler Schlafrhythmus ist kein Zufall, sondern trainierbar. Die Kombination aus Lichtmanagement, Routine und Konsequenz bringt die innere Uhr wieder ins Gleichgewicht (van Andel et al., 2021).
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Das Gedankenkarussell stoppen
Viele ADHS-Betroffene erleben abends eine regelrechte Gedankenexplosion: Sorgen, Pläne, Erinnerungen, Selbstzweifel, alles scheint gleichzeitig durch den Kopf zu rasen. Das Problem dabei: Je mehr man versucht, „nicht zu denken“, desto aktiver wird der Kopf. Dieses Phänomen ist typisch bei ADHS und kann das Einschlafen erheblich verzögern (van Andel et al., 2022).
Das Gedankenkarussell zu stoppen, ist nicht einfach, aber es ist möglich. Entscheidend ist, dem Kopf eine klare Struktur anzubieten, bevor das Grübeln beginnt (van Andel et al., 2022). Dabei helfen folgende Methoden:
- Gedankentagebuch führen: Vor dem Schlafengehen bewusst alles notieren, was dich beschäftigt, To-dos, Sorgen, spontane Ideen. Das schafft nicht nur Ordnung im Kopf, sondern auch emotionale Distanz.
- Geführte Meditationen oder Atemübungen: Eine ruhige Stimme oder eine einfache Atemtechnik (z. B. 4 Sekunden einatmen, 6 Sekunden ausatmen) beruhigt das Nervensystem und fördert die innere Ruhe.
- Progressive Muskelentspannung (PME): Durch gezieltes An- und Entspannen der Muskelgruppen wird körperliche Anspannung abgebaut, ideal bei innerer Unruhe.
- Sorgenzeit etablieren: Lege dir am Nachmittag (z. B. gegen 17 Uhr) bewusst 15 Minuten Zeit zum Grübeln fest. Schreib deine Gedanken auf, finde, wenn möglich, Lösungen, und zieh dann einen mentalen Schlussstrich für den Tag.
- Visualisierungstechniken: Stelle dir beim Einschlafen eine angenehme Szene vor – einen sicheren Ort, einen Spaziergang am Strand oder eine Fantasiereise. Das lenkt vom Gedankenchaos ab.
Tipp: Kombiniere Methoden, zum Beispiel ein kurzes Gedankentagebuch + 10 Minuten Meditation. Wichtig ist die Regelmäßigkeit.
Wichtig zu wissen: Grübeln ist kein persönliches Versagen. Es ist ein Symptom, das viele ADHS-Betroffene teilen. Mit der richtigen Strategie lässt es sich Schritt für Schritt verändern, und der Weg in den Schlaf wird leichter (van Andel et al., 2022).
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Die Umgebung reizarm gestalten
Ein sensibler Umgang mit Reizen kann den Schlaf bei ADHS enorm verbessern, denn Menschen mit ADHS sind oft besonders empfindlich gegenüber äußeren Einflüssen. Eine reizreduzierte
Umgebung hilft, das Nervensystem herunterzufahren und die Voraussetzungen für einen erholsamen Schlaf zu schaffen (van der Heijden et al., 2007). Hier einige bewährte Tipps, wie du dein Schlafzimmer optimieren kannst:
- Verdunkelung: Vermeide jegliche Lichtquellen im Schlafzimmer. Straßenlaternen, LEDs von Geräten oder blinkende Anzeigen können den Schlaf stören. Ideal sind Verdunkelungsvorhänge, Rollos mit Thermofunktion oder bei Bedarf auch eine komfortable Schlafmaske.
- Stille oder White Noise: Viele Menschen mit ADHS sind geräuschempfindlich. Absolute Ruhe kann beruhigend wirken – andere profitieren dagegen von White Noise, wie z. B. Meeresrauschen, Regen, ein laufender Ventilator oder ein spezielles White-Noise-Gerät. Diese gleichmäßigen Geräusche helfen dabei, plötzlich auftretende Störgeräusche auszublenden.
- Optimale Raumtemperatur: Die ideale Schlaftemperatur liegt zwischen 18 und 20 °C. Ein zu warmer oder zu kalter Raum kann den Schlaf massiv beeinträchtigen. Achte auf eine gute Belüftung und verwende bei Bedarf eine leichte, atmungsaktive Bettdecke.
- Minimalismus im Schlafzimmer: Je weniger visuelle Reize, desto besser. Reduziere Dekoration, Spielzeug, Bücherstapel oder Technikgeräte im Schlafbereich. Ein aufgeräumter, neutral gestalteter Raum wirkt beruhigend und hilft, schneller abzuschalten.
- Angenehme Materialien: Verwende natürliche, weiche Textilien für Bettwäsche und Schlafkleidung. Grelles Licht, kratzige Stoffe oder unruhige Muster können unbewusst stimulierend wirken.
- Verzicht auf Bildschirme: Smartphones, Tablets und Fernseher haben im Schlafzimmer nichts zu suchen. Das blaue Licht hemmt die Melatoninproduktion – und die Inhalte regen eher auf als ab. Mindestens 60 Minuten vor dem Zubettgehen: Bildschirm aus.
Tipp: Wer seine Schlafumgebung als sicheren, ruhigen Rückzugsort empfindet, kann abends leichter loslassen, besonders wichtig bei ADHS. Bereits kleine Veränderungen im Raumklima, der Lichtstimmung oder der Geräuschkulisse können eine spürbare Verbesserung bringen (van der Heijden et al., 2007).
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Medikamente & Schlaf: was du beachten solltest
Viele Menschen mit ADHS nehmen Medikamente wie Ritalin, Concerta oder Elvanse ein. Diese Präparate verbessern tagsüber die Konzentration, Impulssteuerung und Reizfilterung, können aber den natürlichen Schlafrhythmus beeinflussen. Besonders bei falscher Dosierung oder zu später Einnahme kann es abends zu innerer Unruhe und Einschlafproblemen kommen (van der Heijden et al., 2007).
Was du tun kannst:
- Einnahmezeit prüfen: Sprich mit deiner Ärztin oder deinem Arzt, ob eine frühere Einnahme sinnvoll sein könnte, etwa morgens statt mittags. Das kann den Abend entspannter machen.
- Wirkdauer beobachten:
- Langzeitpräparate wie Concerta oder Medikinet retard wirken oft bis in die späten Abendstunden.
- In manchen Fällen ist der Umstieg auf ein kurzwirksames Präparat eine Option, um besser einzuschlafen.
- Rebound-Effekt beachten:
- Wenn die Wirkung des Medikaments nachlässt, kann es zu einer «Rückkehr» der Symptome kommen, inklusive innerer Unruhe, Reizbarkeit oder Grübeln.
- Hier helfen gezielte Entspannungsübungen, ein warmes Bad oder beruhigende Routinen.
- Schlaftagebuch führen:
- Notiere für mindestens 2 Wochen:
- Wann du dein Medikament einnimmst
- Wann du ins Bett gehst
- Wie lange du zum Einschlafen brauchst
- Wie du dich morgens fühlst
- So erkennst du Muster und kannst mit deiner Ärztin oder deinem Arzt gezielt gegensteuern.
- Notiere für mindestens 2 Wochen:
Tipp:
- Auch pflanzliche Einschlafhilfen (z. B. Baldrian oder Lavendel) können in Absprache mit medizinischem Fachpersonal eine Unterstützung sein.
- Aber: Medikamente sind kein „Schlafkiller“ per se. Es kommt auf die richtige Abstimmung an, individuell, feinfühlig und professionell begleitet.
Merke:
Medikamente können den Schlaf beeinflussen, müssen es aber nicht. Entscheidend sind:
- Die passende Dosis
- Der richtige Einnahmezeitpunkt
- Und wie dein Körper auf das Präparat reagiert
Wenn du das Gefühl hast, dass dein Medikament deinen Schlaf stört, sprich es offen an, gemeinsam findet ihr eine Lösung (Ahlberg et al., 2023).
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Wann professionelle Hilfe nötig ist
Manchmal reichen bewährte Schlafhygiene-Massnahmen, Routinen und Selbsthilfestrategien nicht mehr aus. Wenn die Einschlafprobleme über mehrere Wochen anhalten, zu chronischem Schlafmangel führen und den Alltag, sei es Schule, Beruf oder Familienleben, stark beeinträchtigen, ist es wichtig, professionelle Unterstützung zu suchen. Das gilt vor allem, wenn emotionale Belastung, Gereiztheit oder Konzentrationsprobleme zunehmen (Ahlberg et al., 2023).
In diesen Fällen bieten sich folgende Optionen an:
- Psychotherapie: Besonders die kognitive Verhaltenstherapie kann dabei helfen, negative Gedankenmuster, innere Unruhe und Angst vor dem Einschlafen zu durchbrechen. Ziel ist es, neue Denk- und Verhaltensweisen einzuüben, die langfristig erholsamen Schlaf ermöglichen.
- Melatonin (ärztlich verschrieben): In bestimmten Fällen, etwa bei Jugendlichen mit verschobenem Schlafrhythmus, kann eine individuell dosierte Gabe von Melatonin sinnvoll sein. Dies sollte aber ausschliesslich nach ärztlicher Beratung und Kontrolle erfolgen.
- Schlafmedizinische Abklärung: Wenn der Verdacht auf körperlich bedingte Schlafstörungen besteht, wie z. B. eine Schlafapnoe, das Restless-Legs-Syndrom oder ein gestörter Tag-Nacht-Rhythmus – kann eine schlafmedizinische Untersuchung im Schlaflabor notwendig sein.
- ADHS-spezifische Beratung: Es gibt Therapeuen und Fachstellen, die sich auf die Kombination ADHS & Schlaf spezialisiert haben. Sie bieten gezielte Hilfestellung, sowohl für Betroffene als auch für Eltern.
Tipp: Eine frühzeitige Abklärung hilft, chronischen Verläufen vorzubeugen. Halte Schlafprobleme daher nicht aus, sondern hol dir rechtzeitig Rat (Wajszilber et al., 2018).
Fazit: Besser einschlafen mit ADHS, das geht
Einschlafprobleme bei ADHS sind belastend, aber nicht unveränderbar. Mit der richtigen Mischung aus Routinen, Reizregulation, Gedankenmanagement und gegebenenfalls professioneller Unterstützung lässt sich viel verbessern. Jeder kleine Schritt zählt, und guter Schlaf ist möglich, auch mit ADHS.