Viele Menschen mit ADHS kennen das Gefühl: Der Tag war anstrengend, der Körper fühlt sich müde an – doch kaum liegt man im Bett, beginnt das Gedankenkarussell. Statt zur Ruhe zu kommen, werden Aufgaben durchdacht, Gespräche nachträglich analysiert oder emotionale Themen neu durchlebt. Die Gedanken hüpfen von einem Punkt zum nächsten, das Einschlafen wird zur Geduldsprobe. Dieses Phänomen ist kein Zeichen von mangelnder Disziplin oder «Zuvieldenken», sondern lässt sich wissenschaftlich nachvollziehen: ADHS wirkt sich nachweislich auf das Schlafverhalten und insbesondere auf den Schlaf-Wach-Rhythmus aus, oft tiefgreifend (Díaz-Román et al., 2018).
Zahlreiche Studien zeigen, dass bis zu 80 % der ADHS-Betroffenen irgendwann in ihrem Leben unter Schlafproblemen leiden. Diese reichen von Einschlaf- und Durchschlafstörungen bis hin zu einer Verschiebung des biologischen Tag-Nacht-Rhythmus. Das Resultat: Wer abends nicht zur Ruhe kommt und morgens früh funktionieren muss, leidet unter chronischem Schlafmangel, mit weitreichenden Konsequenzen. Die Leistungsfähigkeit sinkt, die Konzentration lässt nach, und die typischen ADHS-Symptome wie Impulsivität oder Reizbarkeit werden stärker. Oft kommt es zusätzlich zu Stimmungsschwankungen, innerer Unruhe oder erhöhter Reizempfindlichkei (Díaz-Román et al., 2018)t.
Ein Teufelskreis entsteht: Je mehr die Schlafqualität leidet, desto schwerer fällt es dem Gehirn, tagsüber fokussiert zu bleiben und abends in den Ruhemodus zu wechseln. Vor allem Erwachsene mit ADHS berichten von diesem anhaltenden Spannungszustand, bei dem tagsüber Stress überwiegt und nachts keine echte Erholung stattfindet (Díaz-Román et al., 2018).
Doch warum genau fällt vielen Menschen mit ADHS das Schlafen so schwer? Die Gründe dafür sind vielfältig, hier sind die fünf häufigsten Ursachen, die laut Forschung und Erfahrung besonders oft eine Rolle spielen:
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Gestörter Schlaf-Wach-Rhythmus (z. B. Delayed Sleep Phase Syndrome)

Viele ADHS-Betroffene, ob Kinder, Jugendliche oder Erwachsene, bezeichnen sich selbst als „Nachteulen“. Sie kommen abends nur schwer zur Ruhe, obwohl sie sich körperlich müde fühlen, und haben morgens grosse Mühe, aus dem Bett zu kommen. Dieses Verhalten ist nicht einfach nur eine schlechte Gewohnheit, sondern lässt sich oft auf eine Verzögerung der inneren Uhr zurückführen, das sogenannte Delayed Sleep Phase Syndrome (DSPS) (Van Veen et al., 2010).
Bei DSPS ist die Ausschüttung des Schlafhormons Melatonin verschoben. Während bei vielen Menschen ab etwa 21 oder 22 Uhr die Müdigkeit einsetzt, verspüren ADHS-Betroffene dieses Signal oft erst um Mitternacht oder noch später. Das bedeutet, dass sie biologisch gesehen erst viel später einschlafen können, müssen aber trotzdem häufig früh aufstehen, etwa wegen Schule oder Arbeit. Diese Diskrepanz zwischen innerer Uhr und gesellschaftlichem Zeitplan führt zu regelmässigem Schlafmangel (Van Veen et al., 2010).
Die Folgen sind weitreichend: chronische Erschöpfung, Konzentrationsprobleme, erhöhte Reizbarkeit, Symptome, die sich wiederum negativ auf die ADHS auswirken. Viele Erwachsene berichten, dass sie in einem ständigen Spannungsfeld zwischen innerem Rhythmus und äusseren Anforderungen leben. Besonders belastend ist dieser Zustand, wenn kein Ausgleich oder keine Flexibilität im Alltag möglich ist (Van Veen et al., 2010).
Hinzu kommt: Wer abends nicht müde ist, nutzt die Zeit oft für digitale Medien oder produktive Aufgaben, was den Schlaf-Wach-Rhythmus zusätzlich verschiebt. Auch Lichtreize von Bildschirmen hemmen die Melatonin-Produktion weiter. So entsteht ein Teufelskreis, aus dem viele Betroffene ohne gezielte Unterstützung kaum herausfinden. Chronotherapie, Lichttherapie oder die Einnahme von Melatonin können hier hilfreiche Ansätze sein, idealerweise begleitet durch eine ärztliche oder therapeutische Betreuung (Van Veen et al., 2010).
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Emotionale Unruhe & Grübelzwang
Menschen mit ADHS erleben Emotionen nicht nur intensiver, sondern auch langanhaltender. Emotionale Reize wie Ärger, Frustration, Stress oder Angst wirken bei ihnen stärker nach und sind schwerer abzuschütteln. Diese Schwierigkeiten in der Emotionsregulation können den Übergang vom Wach- in den Schlafzustand erheblich beeinträchtigen. Statt zur Ruhe zu kommen, setzt ein inneres Gedankenkarussell ein, das sich nur schwer stoppen lässt. Viele Betroffene liegen stundenlang wach, durchleben in Gedanken nochmals den Tag oder zerdenken zukünftige Aufgaben. Unerledigtes, Konflikte oder Unsicherheiten kreisen unaufhörlich im Kopf, ein Zustand, der häufig in einen regelrechten Grübelzwang übergeht (van Andel et al., 2021).
Die nächtliche Stille, die für viele Menschen beruhigend wirkt, verstärkt dieses Gedankenchaos noch. Ohne äußere Reize richtet sich der Fokus nach innen – und genau dort beginnt oft das emotionale Durcheinander: Selbstzweifel tauchen auf, Ängste melden sich zu Wort, oder der Druck, „endlich einschlafen zu müssen“, wächst ins Unermessliche. Auch scheinbar kleine Sorgen können sich in der Nacht zu grossen Gedankenspiralen entwickeln. Viele berichten, dass sie das Gefühl haben, „den Kopf nicht abschalten zu können“ (van Andel et al., 2021).
Besonders belastend wird es, wenn diese Unruhe und das Grübeln zur Regel werden. Dann entwickelt sich häufig eine Angst vorm Einschlafen, weil man den nächtlichen Kampf mit den eigenen Gedanken fürchtet. Diese Einschlafangst verstärkt das Problem zusätzlich: Der Druck steigt, die innere Anspannung nimmt zu, und die Wahrscheinlichkeit, tatsächlich zur Ruhe zu finden, sinkt weiter. Ein Teufelskreis entsteht, aus dem man ohne gezielte Unterstützung oft nicht mehr allein herauskommt (van Andel et al., 2021).
Strategien zur Emotionsregulation, Entspannungsübungen wie Atemtechniken oder Meditation, aber auch eine professionelle Begleitung durch Psychotherapie können helfen, diesen inneren Stress abzubauen. Wichtig ist: Die nächtliche Grübelspirale ist kein persönliches Versagen, sondern ein häufiges, behandelbares Phänomen bei ADHS (van Andel et al., 2021).
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Sensorische Reizoffenheit
Ein weiteres typisches Merkmal bei ADHS ist die erhöhte Empfindlichkeit gegenüber Reizen aus der Umgebung. Während viele Menschen Alltagsreize wie Licht, Geräusche oder Gerüche weitgehend ausblenden können, erleben ADHS-Betroffene diese oft als überwältigend. Reize, die für andere kaum wahrnehmbar sind, etwa das Summen eines Ladegeräts, das Flackern einer Lampe oder das Rauschen der Heizung, dringen bei ihnen ungefiltert ins Bewusstsein. Auch kleinste Veränderungen in der Temperatur oder ungewohnte Gerüche können als unangenehm oder störend empfunden werden (van Andel et al., 2021).
Diese sensorische Überempfindlichkeit erschwert es, in eine ruhige und entspannte Schlafumgebung zu finden. Denn sobald die Reizkulisse nicht absolut stimmig ist, fällt es dem Nervensystem schwer, auf „Ruhemodus“ umzuschalten. Das Ticken einer Uhr kann zur nervlichen Zerreissprobe werden, ein schwaches Licht vom Handy-Display reicht aus, um den Einschlafprozess zu unterbrechen, und selbst das entfernte Geräusch vorbeifahrender Autos wird als störend wahrgenommen (van Andel et al., 2021).
Für einen erholsamen Schlaf benötigen viele ADHS-Betroffene deshalb besonders angepasste Rahmenbedingungen: vollständige Dunkelheit (z. B. durch Verdunkelungsvorhänge oder Schlafmasken), möglichst absolute Stille oder beruhigende Geräuschkulissen wie White Noise, eine gleichmässige Raumtemperatur sowie eine strukturierte und vorhersehbare Abendroutine. Auch spezielle Bettmaterialien, die als angenehm auf der Haut empfunden werden, können einen positiven Unterschied machen (van Andel et al., 2022).
Wer seine sensorischen Trigger kennt und bewusst ausschaltet, kann damit die Schlafqualität erheblich verbessern. Denn bei ADHS bedeutet guter Schlaf nicht nur „müde sein“, sondern vor allem: ein Umfeld schaffen, in dem Reize so weit wie möglich minimiert werden (Ahlberg et al., 2023).
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Nebenwirkungen von ADHS-Medikamenten
Viele Erwachsene und Kinder mit ADHS nehmen Medikamente wie Methylphenidat (z. B. Ritalin oder Concerta) oder andere Stimulanzien ein. Diese Medikamente verbessern tagsüber oft Konzentration, Aufmerksamkeit und Impulskontrolle deutlich, sie sind also ein wichtiger Baustein in der ADHS-Therapie. Allerdings bringen sie auch mögliche Nebenwirkungen mit sich, die vor allem den Schlaf negativ beeinflussen können (Ahlberg et al., 2023).
Ein häufiger Nebeneffekt ist die Beeinträchtigung des Einschlafprozesses. Die Wirkung von Stimulanzien hält je nach Präparat mehrere Stunden an, bei Retardpräparaten zum Teil sogar bis zu 12 Stunden. Wenn die Einnahme zu spät am Tag erfolgt, kann dies den natürlichen Einschlafzeitpunkt deutlich verzögern. Die Folge: Man liegt abends lange wach, obwohl man sich eigentlich müde fühlt. Gerade bei Menschen mit ADHS, deren Schlafrhythmus ohnehin oft gestört ist, kann dies zu einem zusätzlichen Problem werden (Ahlberg et al., 2023).
Ein weiteres Thema ist die Wirkung auf die Schlafarchitektur: Manche Betroffene berichten, dass ihr Schlaf durch die Medikation leichter und unruhiger wird oder dass sie häufiger aufwachen. Auch Albträume oder ein Gefühl von innerer Unruhe beim Zubettgehen können auftreten. Diese Nebenwirkungen sind individuell verschieden und hängen unter anderem von der Art des Medikaments, der Dosierung, der Einnahmezeit und der jeweiligen Veranlagung ab (Fadeuilhe et al., 2021).
Deshalb ist es besonders wichtig, die Medikation nicht „nach Schema F“ einzunehmen, sondern gemeinsam mit der behandelnden Ärztin oder dem Arzt die optimale Dosis, das passende Präparat und den idealen Einnahmezeitpunkt zu finden. Bei Bedarf kann auch ein Wechsel auf eine kürzer wirksame Form oder die Einnahme zu einer früheren Tageszeit sinnvoll sein. Ziel ist es, die positiven Effekte der Medikation zu erhalten, ohne dass dadurch der Schlaf leidet (Fadeuilhe et al., 2021).
Zusätzlich kann es helfen, die Einnahmegewohnheiten genau zu dokumentieren, z. B. in einem Schlaftagebuch, um Zusammenhänge zwischen Medikation und Schlafverhalten besser zu erkennen. Auch eine Anpassung der Schlafhygiene oder begleitende therapeutische Massnahmen können sinnvoll sein. Wichtig: Medikamente sind keine Einbahnstrasse. Sie sollten regelmässig überprüft und individuell angepasst werden – insbesondere dann, wenn Schlafprobleme auftreten oder sich verschlimmern (Fadeuilhe et al., 2021).
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Komorbiditäten: Depression, Angst, Schlafapnoe
Nicht selten treten bei ADHS weitere psychische oder körperliche Erkrankungen auf – sogenannte Komorbiditäten. Diese Begleiterkrankungen sind keine Randerscheinung, sondern treten bei einem grossen Teil der Betroffenen auf und können die ADHS-Symptome erheblich verstärken. Dazu zählen unter anderem Depressionen, Angststörungen, das Restless-Legs-Syndrom (RLS) oder auch Schlafapnoe, eine schlafbezogene Atmungsstörung, bei der es in der Nacht zu wiederholten Atemaussetzern kommt (Snitselaar et al., 2016).
Gerade die Kombination von ADHS mit einer oder mehreren dieser Erkrankungen kann zu massiven Schlafproblemen führen. Depressionen bringen häufig Einschlaf- oder Durchschlafstörungen mit sich, Angststörungen verursachen innere Unruhe und nächtliches Grübeln, und bei Schlafapnoe wird der Schlaf durch häufiges, unbewusstes Erwachen fragmentiert, was eine echte Erholung verhindert (Snitselaar et al., 2016).
Auch das Restless-Legs-Syndrom, das durch einen starken Bewegungsdrang der Beine vor dem Einschlafen gekennzeichnet ist, wird bei ADHS überdurchschnittlich oft beobachtet. Dieses Syndrom kann das Einschlafen erheblich verzögern oder für nächtliches Aufwachen sorgen, wodurch die Schlafqualität sinkt (Snitselaar et al., 2016).
Für eine wirksame Therapie ist es daher entscheidend, nicht nur die ADHS-Symptomatik, sondern auch mögliche Komorbiditäten systematisch zu erfassen und zu behandeln. Besonders bei Erwachsenen sollte die Diagnostik gezielt auf solche Begleitstörungen ausgeweitet werden, etwa durch ausführliche Anamnesegespräche, gezielte Fragebögen oder gegebenenfalls zusätzliche Fachabklärungen (Snitselaar et al., 2016).
Denn nur wenn alle relevanten Faktoren berücksichtigt und behandelt werden, kann sich der Schlaf wirklich und nachhaltig verbessern. Eine medikamentöse oder psychotherapeutische Behandlung von Depressionen oder Angststörungen kann ebenso hilfreich sein wie ein gezieltes Atemtherapieprogramm bei Schlafapnoe.
Kurzum: Ein ganzheitlicher Blick ist essenziell, denn schlechter Schlaf ist oft nicht allein auf ADHS zurückzuführen, sondern das Ergebnis eines komplexen Zusammenspiels verschiedener gesundheitlicher Faktoren.
Fazit: ADHS und Schlafprobleme hängen eng zusammen. Wer die Ursachen kennt, kann gezielter gegensteuern, sei es durch eine gute Schlafhygiene, eine passende Medikation oder therapeutische Unterstützung. Wenn du dauerhaft schlecht schläfst und ADHS vermutest: Sprich mit deiner Ärztin oder deinem Arzt. Denn guter Schlaf ist kein Luxus, sondern die Grundlage für Gesundheit, Konzentration und Lebensqualität.
