ADHS in einer Partnerschaft bringt besondere Dynamiken mit sich. Was in anderen Beziehungen vielleicht nur kleine Reibungen sind, kann bei Paaren mit ADHS zu echten Herausforderungen führen. Denn Impulsivität, emotionale Intensität oder Schwierigkeiten mit Struktur können schnell zu Missverständnissen, Streit oder Rückzug führen. Umso wichtiger ist es, ADHS als Teil der Beziehung zu verstehen und gemeinsam Wege zu finden, damit umzugehen (Wymbs et al, 2021).
Eine Beziehung mit ADHS zu führen, bedeutet auch, das eigene Verständnis von Normalität zu hinterfragen. Viele Paare erleben im Alltag wiederkehrende Konflikte, ohne zu realisieren, dass sie nicht auf mangelnder Liebe beruhen, sondern auf unterschiedlichen Wahrnehmungs- und Verhaltensmustern (Wymbs et al, 2021).
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ADHS in der Beziehung: warum es oft kracht
Wenn eine Person in der Beziehung ADHS hat, bedeutet das häufig ein hohes Maß an emotionaler Reaktivität, Schwierigkeiten mit Fokus, Gedächtnis oder Impulskontrolle. Für die Partnerin oder den Partner kann das schnell frustrierend werden, vor allem, wenn wichtige Absprachen vergessen oder Grenzen übertreten werden (Young et al., 2023).
Typische Konfliktherde:
- Vergessene Verabredungen oder Termine
- Impulsive Äußerungen, die verletzen
- Unstrukturierter Alltag oder Chaos im Haushalt
- Gefühl von «emotionaler Unverbindlichkeit» beim Partner
- Hohe Ablenkbarkeit in Gesprächen
- Schwierigkeiten, sich langfristig auf gemeinsame Pläne einzulassen
Beispiel: Der Partner plant ein romantisches Abendessen, die Partnerin mit ADHS vergisst den Termin oder kommt zu spät. Das wirkt wie Desinteresse, obwohl es schlicht eine Folge von ADHS bedingter Zeitblindheit ist.
Tipp: Führt ein Beziehungstagebuch, in dem ihr Herausforderungen, Lösungen und schöne Momente notiert. Das stärkt das gemeinsame Bewusstsein und hilft, wiederkehrende Muster zu erkennen und einzuordnen (Young et al., 2023).
Erweiterung: Eine offene Kommunikation über typische Auslöser kann helfen, frühzeitig gegenzusteuern. Wer erkennt, dass eine Reizüberflutung oder Zeitdruck ADHS Symptome verstärken, kann das Umfeld entsprechend gestalten, etwa durch eine ruhigere Umgebung oder gepufferte Zeitfenster (Young et al., 2023).
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Verständnis statt Vorwurf: der Schlüssel zu mehr Nähe
ADHS in der Beziehung ist kein persönlicher Angriff. Wer das versteht, kann Missverständnisse reduzieren. Zentral ist eine Haltung, die nicht nur Defizite sieht, sondern die neurodiversen Denk- und Handlungsmuster anerkennt (Seidman et al., 2012).
Tipps für mehr Verständnis:
- Wissen aneignen: Bücher wie „ADHS in der Beziehung“ oder Podcasts wie der „ADHS Family Podcast“ können helfen, typische Muster zu erkennen.
- Trigger identifizieren: Was löst Streit oder Rückzug aus? Und wie lässt sich das frühzeitig vermeiden?
- Gemeinsame Sprache entwickeln: Welche Formulierungen helfen, Missverständnisse zu klären?
- Empathie stärken: Das Verhalten nicht als Böswilligkeit, sondern als Symptom deuten
- Perspektivenwechsel üben: Wie fühlt sich mein Verhalten aus Sicht des anderen an?
Zusatzimpuls: Austausch mit anderen Paaren (z. B. im ADHS Beziehung Forum) kann entlasten und inspirieren. Auch gemeinsame Workshops oder Online Seminare können helfen (Seidman et al., 2012).
Erweiterung: Verständnis heisst nicht, alles zu akzeptieren. Grenzen dürfen und sollen gesetzt werden – aber mit Klarheit und ohne Abwertung. Auch Menschen mit ADHS profitieren von Rückmeldung, wenn sie wertschätzend formuliert ist (Seidman et al., 2012).
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Kommunikation mit Klarheit: so gelingt der Dialog
In Beziehungen mit ADHS ist die Art der Kommunikation entscheidend. Lange Diskussionen oder emotionale Vorwürfe führen oft ins Leere. Klare, liebevolle Sprache hilft, Missverständnisse zu vermeiden (Gudjonsson et al., 2023).
Strategien für gelungene Gespräche:
- Kurz & konkret: Klare Aussagen in einfachen Worten
- Wiederholungen nicht als Kritik sehen, sie helfen beim Verstehen
- Zuhören in Etappen, z. B. nach 2 Minuten eine kurze Pause
- Emotionen benennen, statt zu interpretieren
- Feedback-Rituale (z. B. wöchentliche Check-ins)
- Nutzung von Tools wie Gesprächskarten oder Emotionsskalen
Besonders hilfreich: Eine Gesprächsstruktur mit festen Zeiten, z. B. ein „Beziehungs-Check“ am Sonntagabend (Gudjonsson et al., 2023).
Tipp für akute Konflikte: Vereinbart ein Codewort, das euch hilft, Diskussionen bei zu hoher Emotionalität zu unterbrechen und später fortzusetzen (Gudjonsson et al., 2023).
Erweiterung: Visualisierungen wie Skizzen oder Mindmaps können helfen, bei Gesprächen den roten Faden zu behalten, besonders für Menschen mit ADHS, denen rein verbale Kommunikation schwerfällt.
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Struktur & Aufgabenverteilung: Gemeinsam statt gegeneinander
Im Alltag kann ADHS dazu führen, dass sich ein Partner überfordert fühlt, weil Aufgaben nicht zuverlässig erledigt werden. Hier hilft eine bewusste Aufgabenverteilung, und die Akzeptanz, dass „Ordnung“ individuell verschieden sein kann (Hertz et al., 2021).
Was funktioniert gut:
- Klare Rollenaufteilung (schriftlich festhalten!)
- Erinnerungsfunktionen oder gemeinsame Kalender nutzen
- Hilfsmittel wie To-do-Apps oder Whiteboards
- Aufgabentausch: Wer kann was besser, und mit weniger Stress, erledigen?
- Visuelle Planung: Wochenpläne oder Post-its im Alltag
Tipp: Kleine Belohnungen für erledigte Aufgaben können motivieren, vor allem bei ADHS. Auch das Feiern kleiner Erfolge ist wichtig!
Bonus-Tipp: Gemeinsame Check-ins zur Haushaltsplanung helfen, Frust abzubauen (Hertz et al., 2021).
Erweiterung: Aufgaben in Mikro-Schritte zu unterteilen („Müll rausbringen“ = 1. Beutel einspannen, 2. Tüte füllen, 3. rausbringen) kann die Hemmschwelle senken. Ein sichtbarer Fortschritt motiviert zusätzlich (Hertz et al., 2021).
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Nähe und Intimität stärken: trotz ADHS
ADHS kann emotionale Schwankungen oder einen „Overload“ auslösen, der Nähe erschwert. Gleichzeitig sehnen sich viele Betroffene besonders stark nach Bindung. Ein bewusster Umgang mit Nähe & Distanz kann helfen (Soldati et al., 2020).
Impulse für mehr Verbindung:
- Feste Rituale (z. B. Gute-Nacht-Gespräch, Spaziergänge)
- Gemeinsame Highlights (z. B. Date-Night mit Überraschung)
- Körperliche Nähe bewusst gestalten, ohne Druck
- Zeit für sich selbst als Paar definieren, ohne Ablenkung
- Gemeinsame Hobbys entdecken: Etwas, das verbindet und regelmäßig Freude macht
Achtung: Intimität kann auch durch ADHS-Symptome beeinflusst sein (z. B. durch Impulsivität oder Ablenkung). Hier hilft es, offen und wertschätzend über Bedürfnisse zu sprechen.
Tipp: Auch Sexualität kann von ADHS beeinflusst sein. Offenheit, Geduld und gemeinsame Reflexion sind hier besonders wichtig (Soldati et al., 2020).
Erweiterung: Ein gemeinsames „Wohlfühl-Menü“, eine Liste mit kleinen Dingen, die Nähe und Sicherheit geben, kann helfen, in stressigen Phasen gezielt Zuwendung zu schenken.
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Hilfe annehmen und gemeinsam wachsen
ADHS ist keine Schwäche, aber sie verlangt Strategien. Paare profitieren oft enorm von externer Unterstützung. Ein Paar- oder ADHS-Coaching hilft, eingefahrene Muster zu durchbrechen und neue Lösungen zu finden (Wozniak, 2021).
Hilfreiche Angebote:
- ADHS-spezifische Paarberatung
- Bücher wie „ADHS & Beziehung – Wege zur Partnerschaft“
- ADHS-Fachpersonen in Zürich oder Bern
- Austausch in Selbsthilfegruppen (z. B. ADHS Family)
- Digitale Angebote wie Webinare oder Coaching-Programme speziell für ADHS-Paare
Tipp: Manchmal hilft es, das Thema humorvoll zu betrachten. Nicht jeder Fehler ist ein Drama, manchmal ist ein Lächeln der beste Weg zur Versöhnung.
Erweiterung: Hilfe kann auch heissen, sich Auszeiten zu gönnen, sowohl einzeln als auch gemeinsam. Kleine Pausen vom Alltag, ganz ohne „ADHS-Thema“, stärken das Miteinander und fördern Gelassenheit (Wozniak, 2021).
Fazit: Liebe mit ADHS ist möglich, wenn beide hinschauen
ADHS in der Beziehung kann anstrengend sein. Aber auch tief, lebendig und ehrlich. Der Schlüssel liegt in der gemeinsamen Auseinandersetzung mit den eigenen Mustern, in Wertschätzung, Humor und gegenseitiger Unterstützung.
Denn jede Beziehung hat ihre Herausforderungen, ADHS macht sie nur sichtbarer.
Und genau darin liegt auch eine Chance: Wer gemeinsam lernt, kann über sich hinauswachsen, als Paar und als Mensch.