Warum Männer seltener Therapie suchen

Veröffentlicht am: 01. Oktober 2025
Zuletzt ärztlich geprüft am: 08. Oktober 2025

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Porträt von Dr. med. Jens Westphal, Praktischer Arzt FMH und medizinischer Reviewer bei klaro-adhs.ch. Er begleitet Patientinnen und Patienten in der Schweiz bei der Abklärung und Behandlung von ADHS. Das Bild zeigt ihn vor einem klaro-Hintergrund als Teil des ärztlichen Teams für ADHS Schweiz.

Dr. med. Jens Westphal

ADHS-Spezialist und Praktischer Arzt (FMH)
Dr. med. Jens Westphal ist Praktischer Arzt (FMH) mit langjähriger Erfahrung in der hausärztlichen Versorgung und Psychiatrie. Er ist medizinischer Reviewer bei klaro-adhs.ch und prüft alle Inhalte rund um ADHS, Diagnostik und Therapie auf wissenschaftliche Genauigkeit und praktische Umsetzbarkeit in der Schweizer Grundversorgung.

Inhaltsverzeichnis

ADHS ist eine weit verbreitete neurobiologische Störung, die nicht nur Kinder betrifft, sondern auch im Erwachsenenalter fortbesteht. Sie kann das Leben der Betroffenen erheblich beeinflussen, sowohl beruflich als auch privat. Obwohl ADHS Männer und Frauen gleichermaßen betrifft, gibt es einen auffälligen Unterschied in der Häufigkeit, mit der Männer eine Therapie in Anspruch nehmen. Besonders in Bezug auf die Diagnosestellung und die Therapie von Erwachsenen wird oft beobachtet, dass Männer wesentlich später Hilfe suchen als Frauen (Seidler et al., 2016).

Dieser Unterschied in der Häufigkeit von Therapieaufnahmen ist aus verschiedenen Gründen zu erklären. In den letzten Jahren hat sich zwar ein wachsendes Bewusstsein für die Auswirkungen von ADHS auf das Leben von Frauen entwickelt, jedoch wird bei Männern oftmals ein anderes Bild gezeichnet. Doch warum ist das so? Und was lässt sich tun, um Männer zu ermutigen, früher Hilfe in Anspruch zu nehmen? In diesem Artikel werden wir die Faktoren genauer untersuchen, die dazu führen, dass Männer häufig zögern, eine Therapie zu beginnen, und welche Maßnahmen ergriffen werden können, um diesen Trend zu ändern (Seidler et al., 2016).

  1. Gesellschaftliche Erwartungen und Rollenbilder

Ein wesentlicher Faktor, warum Männer mit ADHS seltener Therapie suchen, liegt in den traditionellen gesellschaftlichen Erwartungen und Rollenbildern, die an sie gestellt werden. Männer werden häufig als stark, unabhängig und durchsetzungsfähig wahrgenommen. In einer Gesellschaft, die emotionale Zurückhaltung und Selbstbeherrschung von Männern erwartet, fällt es vielen schwer, sich Schwächen oder Hilfebedarf einzugestehen (Seidler et al., 2016).

Das Bild des «Mannes, der alles alleine schafft» kann dazu führen, dass Symptome von ADHS wie Impulsivität, Konzentrationsstörungen und Unruhe als persönliche Schwächen oder Versagen wahrgenommen werden. Die Angst, in der Gesellschaft als weniger fähig oder als «schwach» zu gelten, kann Männer davon abhalten, eine professionelle Unterstützung zu suchen (Seidler et al., 2016).

  1. Missverständnisse und Fehldiagnosen

Ein weiterer Grund, warum Männer mit ADHS seltener Therapie suchen, ist die häufige Fehlinterpretation der Symptome. ADHS wird oft als „klassische Kinderkrankheit“ betrachtet, bei der vorMann im Bürochaos mit Überforderung – typisches Bild bei ADHS im Alltag. allem hyperaktive Kinder im Vordergrund stehen. Da ADHS bei Erwachsenen meist weniger auffällig ist, häufig ist die Hyperaktivität weniger stark ausgeprägt – wird es bei Männern oftmals als Faulheit oder mangelnde Disziplin missverstanden (Addis & Mahalik, 2003).

Insbesondere bei Erwachsenen wird ADHS oft nicht erkannt, da es sich in subtileren Symptomen wie Schwierigkeiten beim Organisieren, chronischen Verspätungen oder Entscheidungsunfähigkeit äußern kann. Diese Symptome können leicht als Persönlichkeitsmerkmale oder als bloße Charaktereigenschaften abgetan werden, was die Diagnose erschwert und den Weg zur Therapie verlängert (Addis & Mahalik, 2003).

  1. Geringeres Bewusstsein und mangelnde Aufklärung

Männer sind in der Regel weniger gut über die Symptome und Behandlungsmöglichkeiten von ADHS informiert. Während Frauen oft auf die emotionalen und sozialen Auswirkungen von ADHS sensibilisiert werden, fehlt es in vielen Fällen an gezielter Aufklärung für Männer. Dies führt dazu, dass viele Männer ihre Symptome nicht als ADHS erkennen und somit keine Notwendigkeit sehen, eine Therapie zu beginnen (Vogel et al., 2011).

Die fehlende Auseinandersetzung mit dem Thema ADHS und die Unsicherheit über mögliche Behandlungsmethoden tragen dazu bei, dass Männer häufig Jahre oder sogar Jahrzehnte mit unbehandelten Symptomen leben. Eine bessere Aufklärung könnte hier helfen, das Bewusstsein für ADHS bei Männern zu stärken und Barrieren zur Therapie zu überwinden (Vogel et al., 2011).

  1. Angst vor Stigmatisierung und sozialer Ausgrenzung

Männer haben oft Angst davor, dass ihre ADHS Diagnose zu einer Stigmatisierung führen könnte. Die Vorstellung, in der Gesellschaft als „abnorm“ oder „verhaltensauffällig“ wahrgenommen zu werden, ist eine weitere Hürde, die viele Männer davon abhält, Hilfe zu suchen. Besonders in beruflichen Kontexten, in denen Disziplin, Fokussierung und Effizienz erwartet werden, könnte eine Diagnose als Schwäche ausgelegt werden (Gulliver, Griffiths, & Christensen, 2010).

Diese Angst vor sozialer Ausgrenzung und Ablehnung ist für viele Männer so stark, dass sie lieber mit den Symptomen kämpfen, anstatt sich einer Therapie zu öffnen. Dabei zeigen Studien, dass eine frühzeitige Behandlung von ADHS die Lebensqualität und berufliche Leistungsfähigkeit erheblich verbessern kann (Gulliver, Griffiths, & Christensen, 2010).

  1. Kulturelle und familiäre Einflüsse

In vielen Kulturen und Familien wird von Männern erwartet, dass sie ihre Probleme selbst lösen. Diese Einstellung wird häufig von einer Erziehung geprägt, die emotionale Selbstkontrolle und Unabhängigkeit betont. Männer, die sich in ihrer Kindheit oder Jugend nicht mit emotionalen oder psychischen Problemen auseinander setzen durften, haben es als Erwachsene oft besonders schwer, Hilfe zu suchen.

Viele männliche Erwachsene haben in ihrer Jugend keine Unterstützung erfahren, was zu einem tief verwurzelten Misstrauen gegenüber der Therapie führen kann. Selbst in Partnerschaften oder Familien kann der Druck, die „starke“ Rolle zu übernehmen, die Bereitschaft, Hilfe zu suchen, stark einschränken (Sciberras et al., 2023).

  1. Die Auswirkungen auf das Berufsleben und die Beziehungen

Ein Mann ist vollständig mit Notizzetteln bedeckt, viele davon tragen Botschaften wie „Take a break“ oder „Stop“. Bei ADHS Schweiz wird häufig über Reizüberflutung und das Gefühl der Überforderung gesprochen – dieses Bild bringt das Chaos im Kopf bildlich zum Ausdruck. Struktur und Priorisierung können helfen, wieder Klarheit zu gewinnen.Unbehandelt kann ADHS erhebliche Auswirkungen auf das Berufsleben und die sozialen Beziehungen eines Mannes haben. Schwierigkeiten bei der Arbeit, wie etwa Probleme mit der Konzentration, häufige Fehler oder das Missachten von Fristen, können sich negativ auf die berufliche Karriere auswirken. In sozialen Beziehungen kann die Unfähigkeit, Emotionen zu regulieren, und die Schwierigkeiten bei der Kommunikation dazu führen, dass Beziehungen belastet oder sogar zerbrechen (Sciberras et al., 2023).

Männer, die sich ihrer ADHS-Diagnose nicht bewusst sind oder keine Therapie in Erwägung ziehen, riskieren, diese Herausforderungen allein zu bewältigen. Dabei könnte eine gezielte Therapie nicht nur ihre berufliche Leistungsfähigkeit steigern, sondern auch ihre persönlichen Beziehungen verbessern.

  1. Wie können wir Barrieren abbauen?

Um die Zugänglichkeit von Therapien für Männer mit ADHS zu verbessern, müssen mehrere Barrieren abgebaut werden:

  • Gezielte Aufklärung: Es ist wichtig, mehr Aufklärung über ADHS bei Erwachsenen, insbesondere bei Männern, zu betreiben. Wenn Männer verstehen, dass ihre Symptome nicht isoliert oder ihre Schuld sind, sondern auf eine behandelbare Störung hinweisen, sind sie eher bereit, Hilfe zu suchen.
  • Enttabuisierung von psychischen Erkrankungen: In vielen Kulturen und Gesellschaften muss das Stigma rund um psychische Erkrankungen generell abgebaut werden. Männer sollten sich nicht mehr schämen müssen, um Hilfe zu bitten. Psychotherapie und Coaching können genauso normal sein wie der Besuch beim Allgemeinarzt.
  • Anpassung der Therapiemethoden: Männer neigen dazu, praktische Lösungen und Ergebnisse zu schätzen. Therapeuten, die auf ADHS bei Männern spezialisiert sind, sollten daher Lösungen anbieten, die auf ihre Bedürfnisse und Lebensrealitäten zugeschnitten sind.
  • Unterstützung durch das Umfeld: Partner, Freunde und Familie können eine wichtige Rolle spielen, indem sie Männer ermutigen, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen. Ein unterstützendes soziales Umfeld kann dazu beitragen, die Angst vor Stigmatisierung zu verringern und den Einstieg in die Therapie zu erleichtern.

Fazit: Männer und Therapie bei ADHS: Es ist Zeit für Veränderung

Die Entscheidung, eine Therapie zu beginnen, ist für viele Männer eine große Hürde. Doch es ist wichtig zu verstehen, dass ADHS nicht nur eine Herausforderung im Alltag ist, sondern dass eine frühzeitige Diagnose und Therapie das Leben erheblich verbessern können. Wenn mehr Männer die Vorteile einer Behandlung erkennen und sich von den gesellschaftlichen Barrieren befreien, wird es möglich, die Lebensqualität von ADHS-Betroffenen nachhaltig zu steigern.

Rezensentenblock

Porträt von Dr. Almedina Berisha, Ärztin im Team von klaro-adhs.ch. Sie unterstützt Patientinnen und Patienten bei der Diagnostik und Therapie von ADHS in der Schweiz. Das Bild zeigt sie im weissen Arztkittel mit Stethoskop vor einem klaro-Hintergrund.

Almedina Berisha

Ärztin Innere Medizin
Almedina Berisha ist Ärztin für Innere Medizin in der Schweiz mit besonderem Interesse an psychosomatischen Zusammenhängen und neurobiologischen Faktoren von ADHS. Sie prüft medizinische Inhalte auf klaro-adhs.ch auf wissenschaftliche Genauigkeit, klinische Relevanz und patientenverständliche Darstellung. Ihr Fokus liegt auf einer praxisnahen Vermittlung komplexer Themen der Erwachsenenmedizin und psychischen Gesundheit.

Häufig gestellte Fragen (FAQ)

  • Viele Männer mit ADHS zögern, psychologische Hilfe in Anspruch zu nehmen, weil gesellschaftliche Rollenbilder Stärke, Unabhängigkeit und Selbstkontrolle betonen. Hilfe zu suchen, wird fälschlicherweise oft als Schwäche angesehen. Hinzu kommt, dass viele Männer ihre Symptome nicht als Anzeichen einer psychischen Störung erkennen, sondern als persönliche „Fehler“ interpretieren. Diese innere Barriere führt dazu, dass ADHS bei Männern häufig spät oder gar nicht diagnostiziert wird.

Quellenverzeichnis

Seidler, Z. E., Dawes, A. J., Rice, S. M., Oliffe, J. L., & Dhillon, H. M. (2016). The role of masculinity in men’s help-seeking for depression: A systematic review. Clinical Psychology Review, 49, 106–118. https://doi.org/10.1016/j.cpr.2016.10.006

Addis, M. E., & Mahalik, J. R. (2003). Men, masculinity, and the contexts of help seeking. American Psychologist, 58(1), 5–14. https://doi.org/10.1037/0003-066X.58.1.5

Vogel, D. L., Heimerdinger-Edwards, S. R., Hammer, J. H., & Hubbard, A. (2011). “Boys don’t cry”: Examination of the links between endorsement of masculine norms, self-stigma, and help-seeking attitudes for men from diverse backgrounds. Journal of Counseling Psychology, 58(3), 368–382. https://doi.org/10.1037/a0023688

Gulliver, A., Griffiths, K. M., & Christensen, H. (2010). Perceived barriers and facilitators to mental health help-seeking in young people: a systematic review. BMC Psychiatry, 10, 113. https://doi.org/10.1186/1471-244X-10-113

Nam, S. K., Chu, H., Lee, M. H., Lee, H., & Kim, J. (2010). Attitudes toward seeking professional psychological help among Korean students. International Journal of Social Psychiatry, 56(5), 432–442. https://doi.org/10.1177/0020764009104040 (Nam et al., 2010)

Shepherd, G., & Mullane, M. (2023). The challenges preventing men from seeking counselling or psychotherapy: A scoping review. Early Intervention in Psychiatry, 18(7), 560–568. https://doi.org/10.1111/eip.13432

Sciberras, E., Piras, N., Sahagun, L., & Ukoumunne, O. C. (2023). Public perceptions of adult ADHD: indications of stigma? European Archives of Psychiatry and Clinical Neuroscience. https://link.springer.com/article/10.1007/s00702-020-02279-8

 

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