ADHS wird häufig mit Kindern in Verbindung gebracht, die nicht stillsitzen können oder im Unterricht stören. Doch die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung begleitet viele Betroffene bis ins Erwachsenenalter, oftmals unbemerkt. Die Symptome verändern sich im Lauf des Lebens, treten subtiler auf und werden leicht als Charaktereigenschaften fehlgedeutet. In diesem Artikel zeigen wir dir, wie sich ADHS im Erwachsenenalter äußern kann. Wir stellen die 7 häufigsten Symptome vor, beleuchten deren Auswirkungen im Alltag und erklären, wann eine professionelle Abklärung sinnvoll ist. Zusätzlich geben wir Hinweise zur Diagnostik, zu begleitenden Störungen und zu praktischen Tipps im Umgang mit ADHS (Song et al., 2021).
Warum ADHS im Erwachsenenalter oft unerkannt bleibt
Viele Erwachsene mit ADHS erhielten nie eine formelle Diagnose. Die Störung galt lange Zeit als Kinderkrankheit, die sich «auswächst». Tatsächlich zeigen jedoch etwa 60–80 % der Betroffenen auch im Erwachsenenalter noch Symptome. Sie werden jedoch häufig fehlinterpretiert: als mangelnde Disziplin, Faulheit, Chaos oder emotionale Labilität (Song et al., 2021).
Insbesondere Frauen sind betroffen, da sich ADHS bei ihnen oft nicht mit äußerlicher Hyperaktivität, sondern mit innerer Unruhe, emotionaler Sensibilität oder chronischer Erschöpfung zeigt. Hinzu kommt: Viele Betroffene haben über Jahre Strategien entwickelt, um ihre Schwierigkeiten zu kompensieren, etwa durch Perfektionismus, Überanpassung oder Meidungsverhalten (Song et al., 2021).
Ein weiterer Grund für die späte Erkennung liegt darin, dass sich viele Symptome mit anderen psychischen Belastungen überschneiden. Depressionen, Angststörungen oder Erschöpfungszustände können auf eine zugrunde liegende ADHS hindeuten, werden aber oft isoliert behandelt (Williams et al., 2023).
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Konzentrationsprobleme und Ablenkbarkeit
Ein zentrales Symptom von ADHS ist die anhaltende Unaufmerksamkeit. Erwachsene mit ADHS haben oft Schwierigkeiten, ihre Gedanken zu fokussieren und bei einer Aufgabe zu bleiben. Reize von außen oder aus dem eigenen Kopf lenken sie schnell ab (Williams et al., 2023).
Typisch im Alltag:
- Du verlierst im Gespräch den Faden oder schweifst in Tagträume ab.
- Du beginnst Projekte mit Enthusiasmus, doch der Abschluss bleibt aus.
- Du suchst ständig nach verlorenen Gegenständen: Handy, Schlüssel, Notizen.
- Du brauchst für Alltagsaufgaben deutlich länger als andere.
Tieferer Einblick: Ablenkbarkeit ist nicht gleich Faulheit. Das Gehirn von Menschen mit ADHS reagiert besonders stark auf neue, spannende oder visuelle Reize. Gleichzeitig fehlt oft die Fähigkeit zur Reizfilterung. So entsteht ein inneres Chaos, das produktives Arbeiten erschwert, selbst bei wichtigen Aufgaben (Knouse et al., 2017).
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Schwierigkeiten mit Organisation und Zeitmanagement
ADHS erschwert es vielen, den Tag sinnvoll zu strukturieren. Termine werden vergessen, wichtige Aufgaben aufgeschoben, die Zeit vergeht scheinbar schneller als bei anderen (Knouse et al., 2017).
Typisch im Alltag:
- Du hast viele Ideen, aber Probleme mit der Umsetzung.
- Du verschiebst Aufgaben, bis der Druck zu groß wird.
- Du leidest unter deinem eigenen Chaos, findest aber keinen Ausweg.
- To-do-Listen helfen dir kaum, weil du sie selten zu Ende führst.
Hintergrundwissen: Das sogenannte „Zeitgefühl“ ist bei ADHS oft verzerrt. Manche Menschen erleben ein „Jetzt oder nie“-Gefühl: Entweder sie erledigen etwas sofort, oder gar nicht. Die sogenannte exekutive Funktion, also das Organisieren, Planen und Priorisieren, ist beeinträchtigt. Viele Betroffene profitieren daher von visuellen Hilfen, Routinen und klaren Abläufen (López-Pinar et al., 2018).
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Innere Unruhe und Rastlosigkeit
Die klassische äußerliche Hyperaktivität wandelt sich im Erwachsenenalter oft in eine innere Getriebenheit. Viele beschreiben ein ständiges «unter Strom stehen», selbst in eigentlich entspannten Momenten (López-Pinar et al., 2018).
Typisch im Alltag:
- Du kannst schlecht abschalten und bist mental immer in Bewegung.
- Selbst Pausen oder Freizeit stressen dich, weil du nicht zur Ruhe kommst.
- Du wechselst häufig Hobbys oder Interessen, weil dich schnell etwas Neues begeistert.
- Du hast Schlafprobleme, weil die Gedanken abends nicht aufhören.
Wissenswert: Diese Unruhe ist oft kein bewusster Zustand, sondern ein Automatismus. Der Körper ist in Alarmbereitschaft, und das Nervensystem kann nicht in den Ruhemodus wechseln. Meditation, Achtsamkeit oder körperliche Bewegung können helfen, einen Ausgleich zu schaffen, müssen aber individuell angepasst werden (López-Pinar et al., 2018).
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Impulsivität: Schnell gesagt, schnell getan
Impulsivität kann sich in vielen Bereichen zeigen: verbal, emotional oder im Verhalten. Menschen mit ADHS neigen dazu, schnell zu handeln, ohne die Folgen abzuschätzen (López-Pinar et al., 2018).
Typisch im Alltag:
- Du unterbrichst andere oder beendest ihre Sätze.
- Du triffst impulsive Kaufentscheidungen oder sendest Nachrichten, die du später bereust.
- Du reagierst schnell emotional, besonders bei Frustration.
- Du sagst Dinge, die du so nicht gemeint hast – oft zu direkt oder verletzend.
Erklärungsansatz: Impulsivität ist nicht nur ein Mangel an Selbstdisziplin, sondern oft ein Zeichen für eine gestörte Impulskontrolle im präfrontalen Kortex. Das Gehirn „bremst“ nicht rechtzeitig. Betroffene können lernen, diese Impulse besser zu erkennen und mit gezielten Techniken wie dem „inneren Stopp“ zu unterbrechen (López-Pinar et al., 2018).
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Emotionale Reizbarkeit und Stimmungsschwankungen
ADHS betrifft nicht nur die Aufmerksamkeit, sondern auch die emotionale Regulation. Betroffene erleben intensive Gefühle, die oft schwer zu kontrollieren sind (Groß et al., 2019).
Typisch im Alltag:
- Du bist schnell beleidigt oder verletzt, selbst bei kleinen Dingen.
- Deine Stimmung schwankt plötzlich, ohne erkennbaren Auslöser.
- Du gerätst regelmäßig in Streit oder ziehst dich zurück.
- Du hast das Gefühl, emotional «dünnhäutig» zu sein.
Vertiefung: Viele Betroffene leiden unter einem „emotionalen Kurzschluss“. Kleinste Reize können überproportionale Reaktionen auslösen. Wichtig ist es, sich dieser Muster bewusst zu werden und alternative Verhaltensweisen zu erlernen, z. B. über Emotionsregulationstraining oder Achtsamkeitstechniken (Groß et al., 2019).
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Selbstzweifel trotz Fähigkeiten
Viele Erwachsene mit ADHS zweifeln ständig an sich, obwohl sie überdurchschnittlich talentiert, empathisch oder kreativ sind. Der ständige Kampf gegen das Chaos führt zu einem niedrigen Selbstwertgefühl (Groß et al., 2019).
Typisch im Alltag:
- Du fühlst dich trotz Erfolgen als «Hochstapler» (Impostor-Syndrom).
- Du erinnerst dich eher an deine Misserfolge als an deine Stärken.
- Du empfindest alltägliche Aufgaben als anstrengender als andere.
- Du fragst dich, warum du trotz Bemühungen nicht «funktionierst» wie andere.
Hintergrund: Die Summe vieler kleiner „Fehlschläge“ über Jahre hinweg nagt am Selbstwert. Hinzu kommt: Betroffene vergleichen sich oft mit neurotypischen Menschen, was zu überhöhten Ansprüchen an sich selbst führt. Therapie und Coaching können helfen, ein realistisches, wohlwollendes Selbstbild aufzubauen (Groß et al., 2019).
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Schwierigkeiten in sozialen Beziehungen
ADHS wirkt sich auch auf zwischenmenschliche Beziehungen aus. Impulsives Verhalten, Reizbarkeit oder Vergesslichkeit führen oft zu Missverständnissen.
Typisch im Alltag:
- Du wirst als unzuverlässig oder egozentrisch wahrgenommen.
- Du hast Schwierigkeiten, enge Beziehungen aufrechtzuerhalten.
- Du ziehst dich zurück, weil soziale Kontakte dich überfordern.
- Du ärgerst dich über dich selbst, weil du andere (unabsichtlich) verletzt hast.
Vertiefung: Menschen mit ADHS können intensive Nähe suchen, sich aber gleichzeitig schnell zurückziehen, wenn sie überfordert sind. Kommunikationstrainings, Paartherapie oder soziale Skills-Gruppen können helfen, diese Dynamiken zu verstehen und zu verändern (Groß et al., 2019).
Begleiterkrankungen (Komorbiditäten) nicht übersehen
ADHS tritt selten isoliert auf. Viele Erwachsene leiden zusätzlich unter:
- Depressionen
- Angststörungen
- Substanzmissbrauch
- Schlafstörungen
- Essstörungen
Diese sogenannten Komorbiditäten können ADHS maskieren oder verschärfen. Eine ganzheitliche Diagnostik ist daher entscheidend (Pan et al., 2024).
Wann solltest du handeln?
Wenn mehrere dieser Symptome auf dich zutreffen und dein Leben merklich beeinträchtigen, lohnt sich eine professionelle Abklärung. Eine ADHS-Diagnose kann befreiend sein: Endlich gibt es eine Erklärung für jahrelange Probleme. Und noch wichtiger: Es gibt konkrete Hilfen, um den Alltag besser zu bewältigen (Ostinelli et al., 2025).
Die Therapie bei ADHS umfasst meist mehrere Elemente: Psychoedukation, Verhaltenstherapie, medikamentöse Ansätze, Coaching und Alltagshilfen. In der Schweiz ist auch eine Therapie über die Grundversicherung möglich, sofern eine ärztliche Überweisung vorliegt (Ostinelli et al., 2025).
Fazit: ADHS ist behandelbar
ADHS im Erwachsenenalter ist real, häufig und behandelbar. Es ist keine Charakterschwäche, sondern eine neurobiologische Besonderheit. Wer die Symptome erkennt und den Mut hat, sie ernst zu nehmen, kann neue Wege gehen: hin zu mehr Selbstverständnis, Selbstwirksamkeit und Lebensqualität.
Tipp: Du fragst dich, ob du ADHS haben könntest? Unsere psychologischen Fachpersonen unterstützen dich bei der Einschätzung – diskret, online und mit viel Verständnis.