Reizüberflutung ist für viele Menschen ein bekanntes Gefühl, doch für Menschen mit ADHS kann sie zu einer täglichen Belastungsprobe werden. Was andere vielleicht als störend empfinden, wird für Betroffene zur regelrechten Reizattacke: Gespräche im Hintergrund, flackernde Lichter, ein Handy, das summt, jemand, der mit dem Fuß wippt, all das passiert gleichzeitig, wird gleichzeitig wahrgenommen und lässt sich kaum ausblenden. Das Ergebnis? Ein überfordertes Nervensystem, das in den Alarmzustand geht, ohne dass man es will oder verhindern kann (Ghanizadeh, 2011).
Während neurotypische Menschen oft intuitiv unwichtige Sinneseindrücke „herausfiltern“ können, fehlt bei ADHS genau diese Fähigkeit häufig oder ist nur schwach ausgeprägt. Das Gehirn mit ADHS arbeitet nicht „schlechter“, es arbeitet anders. Es verarbeitet mehr Reize gleichzeitig, priorisiert sie nicht automatisch nach Wichtigkeit, sondern gibt auch nebensächlichen Informationen viel Raum. Das kann in bestimmten Situationen zu kreativen Höhenflügen führen, oder eben zur totalen Überforderung. Und genau hier beginnt das Problem: Reizüberflutung ist bei ADHS kein seltener Ausnahmezustand, sondern oft ein alltägliches Phänomen (Ghanizadeh, 2011).
Im Alltag macht sich das bemerkbar durch Reizbarkeit, innere Unruhe, Müdigkeit, Konzentrationsprobleme oder sogar emotionale Zusammenbrüche. Betroffene spüren häufig: „Ich kann nicht mehr – alles ist einfach zu viel.“ Diese Überforderung ist kein Zeichen von Schwäche, sondern ein neurologischer Mechanismus, der das Gehirn in den Selbstschutzmodus versetzt (Ghanizadeh, 2011).
Viele ADHS-Betroffene lernen über die Jahre, mit dieser Reizoffenheit zu leben, oder sich anzupassen, etwa durch Rückzug, Vermeidung oder Perfektionismus. Doch diese Strategien führen oft in die soziale Isolation oder zu ständiger Selbstüberforderung. Was es stattdessen braucht, ist ein bewusster, wohlwollender und strukturierter Umgang mit Reizen, durch Selbstregulation, gezielte Techniken und das Wissen, was dem eigenen Nervensystem wirklich guttut (Ghanizadeh, 2011).
In diesem Artikel beleuchten wir die Hintergründe von ADHS und Reizüberflutung ausführlich, erklären, wie sich dieser Zustand im Alltag zeigt, und stellen dir 6 effektive Strategien vor, mit denen du auch in hektischen, reizintensiven Situationen bei dir bleiben kannst. Du erfährst, welche Rolle Umgebung, Körperwahrnehmung und mentale Techniken spielen, und wie du dir ein stabiles Reizmanagement im Alltag aufbauen kannst (Ghanizadeh, 2011).
Denn: Du kannst deine Reizverarbeitung nicht einfach „abschalten“. Aber du kannst lernen, mit deinem ADHS-Gehirn zu arbeiten, statt gegen es.
Was bedeutet Reizüberflutung eigentlich?
Reizüberflutung beschreibt einen Zustand, in dem das Gehirn durch zu viele gleichzeitige Sinneseindrücke überfordert ist. Es gelingt nicht mehr, Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden, jeder Reiz wird verarbeitet, als wäre er von hoher Bedeutung. Für Menschen mit ADHS ist diese Art der Reizverarbeitung nicht nur eine Ausnahme, sondern oft ein regelmässiger Bestandteil des Alltags (Ghanizadeh, 2011).
Das Gehirn filtert bei ADHS Reize anders. Während viele neurotypische Menschen automatisch entscheiden, welche Informationen in den Vordergrund rücken und welche ausgeblendet werden können, läuft bei ADHS alles gleich laut, gleich wichtig, gleich dringend. Ob es das Ticken der Uhr ist, das flackernde Licht in der Küche oder der Geruch des Parfüms einer vorbeilaufenden Person, es gibt keinen inneren Filter, der sagt: „Ignorier das.“ Stattdessen bleibt der Kopf offen wie ein Fenster in einem Sturm (Ghanizadeh, 2011).
Dabei geht es nicht nur um visuelle oder akustische Reize. Auch soziale, emotionale oder organisatorische Anforderungen können zur Reizüberflutung führen. Ein voller Terminkalender, mehrere ungeklärte Aufgaben im Job, eine WhatsApp-Nachricht, die unbeantwortet bleibt, all das kann im Gehirn eines Menschen mit ADHS gleichzeitig präsent sein und zu einem Gefühl der Überforderung führen (Ghanizadeh, 2011).
Besonders heikel: Diese Reizüberflutung passiert oft unter der Oberfläche. Betroffene wirken auf andere vielleicht „überfordert“, „schnell genervt“ oder „chaotisch“, ohne dass sie selbst direkt benennen können, was gerade zu viel ist. Das führt nicht selten zu Missverständnissen im privaten oder beruflichen Umfeld.
Reizüberflutung ist kein „Zuviel an Aufgaben“, es ist ein Zuviel an Reizen, das unser Gehirn nicht mehr effizient regulieren kann. Der Stress, der dadurch entsteht, ist real und körperlich spürbar: Herzrasen, Muskelverspannungen, Gereiztheit, Erschöpfung oder sogar Übelkeit sind typische Begleiterscheinungen (Lane et al., 2010).
Wichtig ist dabei zu verstehen: Das Problem ist nicht mangelnde Belastbarkeit oder ein „falscher Umgang mit Stress“. Es ist ein neurologisches Phänomen – ein Zusammenspiel aus Dopaminmangel, sensorischer Überempfindlichkeit und einer gestörten Reizfilterung, wie sie für ADHS typisch ist (Lane et al., 2010).
Das Gute: Wer dieses Muster erkennt, kann gezielt daran arbeiten, mit Reizüberflutung besser umzugehen, durch präventive Strategien, bewusste Pausen, Reizmanagement und vor allem durch Selbstmitgefühl. Denn das Ziel ist nicht, alle Reize zu vermeiden, sondern einen gesunden Umgang mit ihnen zu finden (Lane et al., 2010).
Warum sind Menschen mit ADHS besonders anfällig?
Die Ursache liegt in der Art, wie das ADHS-Gehirn Reize verarbeitet (Lane et al., 2010). Verschiedene Faktoren spielen hier eine Rolle:
- Gestörte Reizfilterung: Menschen mit ADHS nehmen mehr Reize gleichzeitig wahr – ohne die Fähigkeit, diese zu priorisieren. Was wichtig ist und was nicht, verschwimmt.
- Höhere Sensibilität: Studien zeigen, dass viele ADHS Betroffene ein überempfindliches Nervensystem haben. Geräusche, Licht, Berührungen oder soziale Reize können schneller als „zu viel“ empfunden werden.
- Emotionale Reaktivität: ADHS geht oft mit einer erhöhten emotionalen Reaktionsbereitschaft einher. Schon kleine Reize können große emotionale Wellen auslösen – etwa Reizbarkeit, Frustration oder Rückzug.
- Dopaminmangel: Die Reizverarbeitung ist eng mit Dopamin, einem Neurotransmitter für Motivation und Aufmerksamkeit, verknüpft. Bei ADHS ist das Dopaminsystem häufig dysreguliert – was dazu führt, dass Reize schlechter bewertet und eingeordnet werden können.
Diese Kombination macht Reizüberflutung zu einem alltäglichen Begleiter, besonders in vollen U-Bahnen, lauten Großraumbüros oder belebten Familienküchen (Marco et al., 2011).
Typische Anzeichen von Reizüberflutung bei ADHS
Reizüberflutung zeigt sich bei ADHS oft in einem Mix aus körperlichen, emotionalen und kognitiven Symptomen (Marco et al., 2011). Hier ein Überblick:
Körperliche Symptome
- Zunehmende innere Unruhe oder Nervosität
- Muskelanspannung, Kopfschmerzen oder Übelkeit
- Erschöpfung, obwohl man „nur dasitzt“
- Schlafprobleme oder Einschlafschwierigkeiten nach vollen Tagen
Emotionale Symptome
- Reizbarkeit, plötzliche Wutausbrüche
- Gefühl von Überforderung oder Hilflosigkeit
- Rückzugsverhalten, um „Ruhe“ zu bekommen
- Stimmungsschwankungen, manchmal bis zu depressiven Episoden
Kognitive Symptome
- Konzentrationsprobleme
- Schwierigkeiten, klare Entscheidungen zu treffen
- Gefühl, dass „alles zu viel“ ist
- Gedankenkreisen, Gedankensprünge, Blackouts
Nicht selten führt eine Reizüberflutung zu einer Art innerer Lähmung: Eigentlich sind Aufgaben zu erledigen, aber das Gehirn steht still. Genau hier setzen die folgenden Selbstregulationsstrategien an (Gillespie et al., 2024).
6 Strategien gegen Reizüberflutung bei ADHS
-
Die Umgebung gezielt steuern
Nicht immer ist es möglich, einen reizarmen Raum zu schaffen, aber oft lassen sich bestimmte Reize bewusst reduzieren (Gillespie et al., 2024). Hilfreich sind:
- Noise-Cancelling-Kopfhörer in lauten Umgebungen
- Sonnenbrille oder Kappe, wenn Licht als störend empfunden wird
- Akustisch ruhige Orte für konzentriertes Arbeiten (z. B. Bibliotheken statt Cafés)
- Reduktion visueller Reize am Arbeitsplatz (weniger Deko, klare Ordnung)
Viele Menschen mit ADHS profitieren von einem festen Rückzugsort, der möglichst reizfrei gestaltet ist. Auch das Smartphone in den Flugmodus zu versetzen, kann Wunder wirken (Gillespie et al., 2024).
-
Sensorische Hilfsmittel nutzen
Reize lassen sich nicht immer ausschalten, aber umlenken (Gillespie et al., 2024). Sensorische Tools können helfen, den Fokus neu zu setzen:
- Fidget-Toys oder Knetbälle lenken überschüssige Energie um
- Gewichtsdecken oder eng anliegende Kleidung beruhigen das Nervensystem
- Kaugummi kauen oder ein Schluck Wasser kann helfen, den Körper zu erden
- Weiche Textilien, Düfte oder Musik schaffen eine beruhigende Gegenwelt
Der Trick besteht darin, sich selbst kleine Reize zu setzen, die helfen, sich zu orientieren, anstatt von der Außenwelt überflutet zu werden (Gillespie et al., 2024).
-
Struktur und Zeitmanagement schaffen
Reizüberflutung entsteht häufig auch durch innere Reize, z. B. eine To-do-Liste im Kopf (Engel-Yeger & Dunn, 2011). Wer klare Tagesstrukturen entwickelt, entlastet sein Gehirn:
- Tages- und Wochenpläne, idealerweise visuell aufbereitet
- Feste Zeitfenster für Aufgaben mit Pufferzonen
- Nicht mehr als drei Hauptaufgaben pro Tag
- Nutzung von Apps mit klaren Interfaces, wie Notion, Structured oder Numo
Wichtig ist: Reizvermeidung ist kein Rückzug, sondern Selbstfürsorge. Wer sich selbst organisiert, gibt sich die Chance, Überforderung zu vermeiden (Engel-Yeger & Dunn, 2011).
-
Körperliche Regulationstechniken anwenden
Reize betreffen den Körper, also sollte auch die Beruhigung über den Körper erfolgen. Besonders wirksam:
- Tiefe Bauchatmung (z. B. 4 Sekunden ein, 6 Sekunden aus)
- Progressive Muskelentspannung
- Spaziergänge (vor allem in der Natur)
- Regelmässige Pausen, auch ohne externe Reize (keine Musik, kein Handy)
Auch Sport kann helfen – besonders rhythmische Bewegungen wie Joggen, Tanzen oder Schwimmen. Bewegung wirkt reizverarbeitend, weil sie dem Nervensystem erlaubt, Spannungen abzubauen (Ben-Sasson et al., 2009).
-
Mentale Erdung & Achtsamkeit
In überfordernden Momenten ist der Griff zu Achtsamkeitstechniken oft der wirksamste, auch wenn es zunächst paradox klingt (Ben-Sasson et al., 2009).
- Die 5-4-3-2-1-Technik: Nenne 5 Dinge, die du sehen kannst, 4 die du hören kannst, 3 die du fühlen kannst, 2 die du riechen kannst, 1 die du schmecken kannst.
- Mini-Meditationen von 2–5 Minuten können helfen, sich zu zentrieren.
- Auch achtsames Schreiben, z. B. 3 Dinge, für die man dankbar ist, kann das Gedankenkarussell stoppen.
Diese Techniken sind wie ein innerer Notfallkoffer, man muss sie trainieren, um sie im Ernstfall automatisch anwenden zu können (Ben-Sasson et al., 2009).
-
Professionelle Begleitung in Anspruch nehmen
Nicht jede Reizüberflutung lässt sich allein bewältigen, und das muss sie auch nicht. Besonders bei starker emotionaler Reaktivität oder Reizvermeidung (z. B. soziale Isolation) kann eine Therapie sehr entlastend sein (García-Banda et al., 2023).
Geeignete Angebote:
- Verhaltenstherapie mit Fokus auf Reizverarbeitung und Selbstregulation
- ADHS Coaching, um Alltag und Reize besser zu strukturieren
- Medikamentöse Behandlung, z. B. mit Stimulanzien, wenn Reizfilterung massiv gestört ist
Eine Therapeutin kann dabei helfen, individuelle Trigger zu erkennen und langfristig einen besseren Umgang mit Reizen zu entwickeln (García-Banda et al., 2023).
Fazit: Reize kann man nicht ausschalten, aber den Umgang mit ihnen lernen
Reizüberflutung bei ADHS ist keine Einbildung, sondern eine echte Überforderung des Nervensystems. Die gute Nachricht: Es gibt wirksame Wege, sich selbst zu helfen. Mit einem Mix aus Umgebungsanpassung, sensorischen Tools, Struktur, Erdung und ggf. therapeutischer Unterstützung lässt sich der Alltag wieder besser bewältigen.
Denn letztlich geht es bei ADHS & Reizüberflutung nicht darum, alles auszublenden, sondern darum, bewusst zu wählen, was man wahrnimmt, wann und wie.
Wenn du selbst von Reizüberflutung betroffen bist oder jemanden kennst, für den der Alltag oft „zu viel“ ist, sprich darüber. ADHS bedeutet nicht, dass du weniger belastbar bist. Es bedeutet nur, dass dein Gehirn anders funktioniert. Und mit den richtigen Strategien funktioniert es oft erstaunlich gut.