Wenn ein Kind oder ein Erwachsener die Diagnose ADHS erhält, fragen sich viele Familien: Wird ADHS vererbt? Die Antwort darauf ist komplex und bewegt sich zwischen genetischer Veranlagung, neurologischen Besonderheiten und Umweltfaktoren. Die moderne Forschung zeigt: Gene spielen eine wesentliche Rolle, aber sie sind nicht der einzige Faktor. Auch Erziehung, Schwangerschaftsverlauf, soziale Umgebungen und individuelle Lebenserfahrungen beeinflussen, ob ADHS auftritt und wie stark es sich zeigt (Faraone & Larsson, 2019).
In diesem Artikel werfen wir einen ausführlichen Blick auf die genetische Komponente von ADHS, gehen auf familiäre Häufungen ein, beleuchten den Einfluss beider Elternteile und zeigen, wie Familien gemeinsam konstruktiv mit einer ADHS Diagnose umgehen können (Faraone & Larsson, 2019).
ADHS: Genetisch bedingt oder erworben?
ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung) gilt heute als neurobiologische Entwicklungsstörung, die meist bereits im Kindesalter beginnt und häufig bis ins Erwachsenenalter bestehen bleibt. Die Wissenschaft ist sich weitgehend einig, dass ADHS eine starke genetische Komponente besitzt. Das heisst: Die Wahrscheinlichkeit, ADHS zu entwickeln, steigt deutlich, wenn bereits andere Familienmitglieder betroffen sind (Nikolas & Burt, 2010).
Was sagen die Studien?
- Die Vererbbarkeit (Heritabilität) von ADHS liegt laut internationalen Zwillingsstudien bei etwa 70 bis 80 %.
- Kinder von ADHS-betroffenen Eltern haben ein deutlich erhöhtes Risiko, selbst ADHS zu entwickeln.
- Auch Geschwisterkinder sind statistisch häufiger betroffen als der Durchschnitt.
- Eineiige Zwillinge zeigen besonders hohe Konkordanzraten, was auf eine starke genetische Grundlage hinweist.
Fachbegriffe wie «ADHS vererbt genetisch bedingt», «ADHS genetische Disposition» oder «ADHS Vererbung Wahrscheinlichkeit» tauchen nicht nur in wissenschaftlichen Artikeln, sondern auch immer häufiger in Suchanfragen von Betroffenen auf (Nikolas & Burt, 2010).
Welches Elternteil vererbt ADHS öfter?
Ein verbreiteter Mythos besagt, ADHS werde hauptsächlich von der Mutter oder hauptsächlich vom Vater vererbt. Die Studienlage dazu ist allerdings uneindeutig. Die genetische Übertragung erfolgt in der Regel nicht geschlechtsspezifisch, sondern beruht auf der Kombination verschiedener Gene, die von beiden Elternteilen vererbt werden können (Franke et al., 2018).
Einige Studien deuten darauf hin, dass mütterliche ADHS Symptome stärker mit frühkindlichen Symptomen der Kinder korrelieren, während väterliche ADHS häufiger mit impulsiven oder externalisierenden Verhaltensmustern in Verbindung gebracht wird. Andere Forschungsergebnisse relativieren diese Zusammenhänge wieder (Franke et al., 2018).
Fazit: Die Vererbung ist multifaktoriell, epigenetisch beeinflusst und nicht auf ein einzelnes Elternteil reduzierbar (Franke et al., 2018).
Gibt es ADHS auch ohne familiäre Vorbelastung?
Ja, das gibt es. Zwar spielt die genetische Veranlagung eine zentrale Rolle, aber nicht alle ADHS-Fälle lassen sich ausschliesslich durch Vererbung erklären. Auch Menschen ohne bekannte familiäre Vorbelastung können betroffen sein (Greven et al., 2011). Mögliche Risikofaktoren sind:
- Neurologische Entwicklungsstörungen vor, während oder nach der Geburt (z. B. Sauerstoffmangel)
- Komplikationen in der Schwangerschaft, etwa bei Infektionen oder durch Schadstoffbelastung
- Medikamenteneinnahme in der Schwangerschaft
- Frühkindliche Traumata oder langanhaltender Stress
- Soziale Risikofaktoren, etwa instabile Familienverhältnisse
Es ist also möglich, dass ADHS erworben ist, zumindest in der Ausprägung. Die genetische Anlage kann durch Umweltreize verstärkt oder abgeschwächt werden (Stichwort: Epigenetik) (Greven et al., 2011).
ADHS bei Kindern: Wenn Eltern ebenfalls betroffen sind
In vielen Fällen bringt erst die ADHS-Diagnose des Kindes Bewegung in die eigene Biografie. Eltern stellen retrospektiv fest, dass sie selbst typische Symptome aufweisen: Unorganisiertheit, Impulsivität, emotionale Überreaktionen oder chronisches Chaos im Alltag (Müller et al., 2014).
Die doppelte Belastung durch eigene ADHS-Symptome und die Herausforderungen mit einem betroffenen Kind kann herausfordernd sein. Dennoch liegt in dieser Erkenntnis auch eine grosse Chance:
- Selbstakzeptanz: Wer seine eigenen Symptome erkennt, kann mitfühlender mit sich selbst umgehen.
- Modelllernen: Kinder profitieren davon, wenn Eltern offen und konstruktiv mit ADHS umgehen.
- Geteiltes Verstehen: Die Kommunikation verbessert sich, wenn gegenseitige Schwierigkeiten nicht mehr als «Fehlverhalten» gewertet werden.
Praktisch heisst das: Struktur, Hilfe von aussen und Geduld sind zentrale Ressourcen für die ganze Familie (Müller et al., 2014).
Umgang mit ADHS in der Familie: Gemeinsam wachsen
Eine ADHS-Diagnose kann eine Familie verunsichern, oder sie stärken. Entscheidend ist, wie man mit dem Wissen umgeht (Müller et al., 2014). Wichtig sind:
- Transparenz: Altersgerechte Aufklärung der Kinder und Offenheit im Umgang mit Diagnosen.
- Alltagsstruktur: Klare Abläufe, visuelle Planungshilfen, feste Schlafens- und Essenszeiten.
- Ressourcenfokus: Statt sich auf Defizite zu konzentrieren, sollten Stärken gefördert werden (z. B. Kreativität, Energie, Empathie).
- Professionelle Begleitung: Ob ADHS-Coaching, Familientherapie oder psychologische Beratung – externe Hilfe kann entlasten.
Auch Selbsthilfegruppen bieten wertvolle Unterstützung. Sie schaffen Austausch, Normalität und zeigen, dass man nicht allein ist (Müller et al., 2014).
Fazit: ADHS ist oft vererbbar, aber kein festgelegtes Schicksal
Die Forschung zeigt klar: ADHS ist in vielen Fällen vererbbar, mit einer hohen genetischen Komponente. Doch das bedeutet nicht, dass ein Kind zwangsläufig betroffen sein muss. Genauso wenig heisst eine ADHS-Diagnose, dass das Familienleben automatisch schwieriger ist.
Mit Wissen, Offenheit und passender Begleitung kann ADHS in der Familie sogar eine Ressource sein. Der gemeinsame Umgang mit Herausforderungen fördert das Verständnis, die Resilienz und das gegenseitige Vertrauen. So entsteht aus einer Diagnose nicht nur eine Herausforderung, sondern oft auch eine neue Verbundenheit.
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