Minderwertigkeitsgefühle bei ADHS: Woher sie kommen & wie du sie überwindest

Veröffentlicht am: 01. Oktober 2025
Zuletzt ärztlich geprüft am: 07. Oktober 2025

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Porträt von Dr. med. Jens Westphal, Praktischer Arzt FMH und medizinischer Reviewer bei klaro-adhs.ch. Er begleitet Patientinnen und Patienten in der Schweiz bei der Abklärung und Behandlung von ADHS. Das Bild zeigt ihn vor einem klaro-Hintergrund als Teil des ärztlichen Teams für ADHS Schweiz.

Dr. med. Jens Westphal

ADHS-Spezialist und Praktischer Arzt (FMH)
Dr. med. Jens Westphal ist Praktischer Arzt (FMH) mit langjähriger Erfahrung in der hausärztlichen Versorgung und Psychiatrie. Er ist medizinischer Reviewer bei klaro-adhs.ch und prüft alle Inhalte rund um ADHS, Diagnostik und Therapie auf wissenschaftliche Genauigkeit und praktische Umsetzbarkeit in der Schweizer Grundversorgung.

Inhaltsverzeichnis

Menschen mit ADHS hören schon früh im Leben, dass sie «zu viel», «zu laut», «zu unkonzentriert» oder «zu unorganisiert» sind. Sie bekommen überdurchschnittlich oft Kritik für Dinge, die sie nicht willentlich tun – sondern die Teil ihrer neurobiologischen Veranlagung sind. Dieses ständige Korrigieren, Missverstehen oder gar Abwerten führt dazu, dass viele Betroffene schon als Kinder das Gefühl entwickeln: «Mit mir stimmt etwas nicht.» Diese Aussage wird nicht nur gedacht, sondern beginnt sich wie ein innerer Glaubenssatz tief im Selbstbild zu verankern. (Arnsten, 2011)

Diese wiederholten negativen Rückmeldungen setzen sich fest – wie ein innerer Kritiker, der nicht verstummt. Selbst wenn objektiv gar kein Fehler passiert ist, entsteht im Kopf oft das Gefühl, nicht gut genug zu sein. Studien zeigen, dass gerade bei Jugendlichen mit ADHS das Selbstwertgefühl deutlich geringer ist als bei Gleichaltrigen. Besonders betroffen sind dabei jene mit einer spät erkannten Diagnose oder ohne angemessene Unterstützung im schulischen oder sozialen Umfeld. Wird ADHS nicht frühzeitig verstanden und begleitet, kann sich ein Gefühl von chronischer Überforderung entwickeln – oft gepaart mit Selbstzweifeln und Versagensangst (Arnsten, 2011).

Hinzu kommt die sogenannte Rejection Sensitivity Dysphoria (RSD), eine übersteigerte emotionale Reaktion auf Kritik oder Zurückweisung. Diese Reaktion ist kein «Sensibelchen-Syndrom», sondern eine Folge der beeinträchtigten Reizfilterung im Gehirn. Ein kurzer Blick, eine unbedachte Bemerkung – und schon kann ein emotionaler Absturz folgen. Oft folgt darauf ein langes Grübeln: «Was habe ich falsch gemacht?», auch wenn gar nichts war (Arnsten, 2011).

Typisch ist dabei ein innerer Kreislauf aus negativen Gedanken:Eine Frau mit langen blonden Haaren steht entspannt im Sonnenuntergang, die Augen geschlossen, das Gesicht zur Sonne gerichtet. Die Szene wirkt ruhig und achtsam. Achtsamkeit und Selbstregulation sind zentrale Elemente in der Therapie von ADHS Schweiz.

  • «Ich schaffe das sowieso nicht.»
  • «Ich bin wieder mal zu unkonzentriert gewesen.»
  • «Andere sind viel besser.»
  • «Ich bin eine Enttäuschung.»

Diese Denkmuster wirken wie ein negativer Verstärker: Je schlechter das Selbstbild, desto grösser die Angst vor Fehlern, was wiederum die Leistungsfähigkeit mindern kann. Und diese Leistungsminderung führt oft zu noch mehr Kritik,ein Teufelskreis entsteht (Bikic et al., 2017).

Wichtig: Du bist nicht allein. In Selbsthilfegruppen wie der ADHS Selbsthilfegruppe Bern, der ADHS Selbsthilfegruppe Zürich oder über Angebote der Stiftung ADHS Schweiz kannst du dich mit anderen austauschen, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben. Diese Vernetzung hilft, sich selbst wieder objektiver zu sehen, und die innere Kritik zu relativieren. Viele Betroffene berichten, dass bereits das erste Gespräch mit Gleichgesinnten ein befreiendes Gefühl war, endlich verstanden zu werden, ohne sich erklären oder rechtfertigen zu müssen. Auch Online-Communities und Anlaufstellen wie der «ADHS 20 Plus Test» oder Plattformen wie 20min.ch bieten Möglichkeiten zur Orientierung und zum Austausch (Shaw et al., 2014).

5 Wege, wie du deinen Selbstwert bei ADHS stärken kannst

  1. Kenne deine Stärken, nicht nur deine Schwächen
    Viele Menschen mit ADHS haben besondere Begabungen: blitzschnelles Denken, ausgeprägte Kreativität, hohe Empathie oder Ausdauer bei Herzensprojekten. Leider bleiben diese Talente oft im Schatten alltäglicher Herausforderungen. Deshalb: Nimm dir bewusst Zeit, deine Stärken zu entdecken, und halte sie schriftlich fest. Erstelle eine Liste mit Erfolgen, besonderen Fähigkeiten oder Momenten, in denen du auf dich stolz warst. Ergänze diese Liste regelmässig und lies sie dir an schwierigen Tagen durch. Sie erinnert dich daran, was du alles kannst – auch wenn der Alltag mal wieder chaotisch wirkt (Volkow et al., 2009).
  2. Erkenne Denkmuster und stoppe die innere Abwertung
    Unser innerer Kritiker kann hartnäckig sein, besonders, wenn wir mit ADHS schon früh gelernt haben, dass wir „nicht richtig“ funktionieren. Wenn du dich selbst abwertest, halte inne. Frag dich: Würde ich so mit einem guten Freund sprechen? Wahrscheinlich nicht. Formuliere bewusst um: Aus „Ich bin so unorganisiert“ wird „Ich habe heute Prioritäten anders gesetzt – und das ist okay“. Solche Reframing-Übungen verändern auf Dauer dein Selbstbild. Tipp: Schreib dir hilfreiche Alternativsätze auf Post-its und platziere sie sichtbar, als tägliche Erinnerung an deinen Wert (Willcutt et al., 2005).
  3. Finde deinen Tribe
    Leuchtende Neonschrift auf einer Holzpaneelwand mit der Botschaft „YOU DESERVE IT“. Die Worte strahlen Motivation und Selbstwert aus. Diese Botschaft stärkt das Selbstbild – ein entscheidender Faktor in der Behandlung von ADHS Schweiz.Wer dich so akzeptiert, wie du bist, das ist Gold wert. Das können ADHS Selbsthilfegruppen sein (z. B. in Bern, Zürich oder Winterthur), aber auch Coaches oder Freund:innen, die dich nicht verändern wollen, sondern ermutigen. Der Austausch mit Gleichgesinnten hilft dir, dich mit deinen Herausforderungen nicht allein zu fühlen. Gemeinsam zu lachen, zu scheitern und wieder aufzustehen, das stärkt nicht nur das Selbstwertgefühl, sondern gibt neue Perspektiven (Willcutt et al., 2005).
  4. Setze auf kleine, erreichbare Ziele
    ADHS bringt oft ein Gefühl von Überforderung mit sich, besonders bei grossen, unübersichtlichen Aufgaben. Um dem entgegenzuwirken, hilft es, Projekte in kleine, konkrete Etappen zu gliedern. Jeder abgeschlossene Schritt wird bewusst gefeiert, ein Haken auf der To-do-Liste, ein kurzer Moment der Anerkennung. So trainierst du dein Gehirn darauf, Erfolge wahrzunehmen. Und je mehr positive Erfahrungen du machst, desto mehr nährt das dein Selbstbild (Durand et al., 2020).
  5. Hol dir professionelle Hilfe, wenn du feststeckst
    Es ist kein Zeichen von Schwäche, sondern von Selbstfürsorge, Hilfe in Anspruch zu nehmen. Eine Therapeutin oder ein ADHS-Coach kann dir helfen, alte Denkmuster zu hinterfragen und neue Wege zu gehen. In der Schweiz gibt es zahlreiche Anlaufstellen, etwa in Luzern oder über Angebote wie den ADHS 20 Plus Test. Auch Online-Selbsttests, Communitys oder Foren auf 20min.ch bieten niedrigschwellige Möglichkeiten zum Einstieg. Manchmal genügt schon ein Gespräch, um erste Klarheit zu gewinnen und neue Hoffnung zu schöpfen (Durand et al., 2020).

Fazit: Dein Selbstwert ist kein Zufall, sondern trainierbar

ADHS beeinflusst, wie du denkst, fühlst und handelst, aber es definiert nicht deinen Wert als Mensch. Selbstwert ist kein starres Konzept, sondern ein innerer Muskel. Und wie jeder Muskel kann er wachsen, wenn du ihn regelmässig trainierst.

Erinnere dich: Du bist nicht allein. Und du bist nicht falsch. Du bist einfach anders verdrahtet. Und das ist völlig okay.

Rezensentenblock

Porträt von Dr. Almedina Berisha, Ärztin im Team von klaro-adhs.ch. Sie unterstützt Patientinnen und Patienten bei der Diagnostik und Therapie von ADHS in der Schweiz. Das Bild zeigt sie im weissen Arztkittel mit Stethoskop vor einem klaro-Hintergrund.

Almedina Berisha

Ärztin Innere Medizin
Almedina Berisha ist Ärztin für Innere Medizin in der Schweiz mit besonderem Interesse an psychosomatischen Zusammenhängen und neurobiologischen Faktoren von ADHS. Sie prüft medizinische Inhalte auf klaro-adhs.ch auf wissenschaftliche Genauigkeit, klinische Relevanz und patientenverständliche Darstellung. Ihr Fokus liegt auf einer praxisnahen Vermittlung komplexer Themen der Erwachsenenmedizin und psychischen Gesundheit.

Häufig gestellte Fragen (FAQ)

  • Haeufige Trigger sind Reizueberflutung (Laerm, viele To-dos, Push-Mitteilungen), Unterforderung oder monotone Aufgaben, Zeitdruck, Schlafmangel und unklare Erwartungen. Auch Kritik oder Zurueckweisung (RSD) kann starke Gefuehlsreaktionen ausloesen. Hilfreich sind klare Routinen, Priorisierung, Pausen sowie das Buendeln von Benachrichtigungen – das senkt die Reizlast im Alltag in der Schweiz deutlich.

Quellenverzeichnis

  1. Arnsten, A. F. T. (2011). Catecholamine influences on dorsolateral prefrontal cortical networks: Relevance to treatment of ADHD. Biological Psychiatry, 69(12), e89–e99. https://pmc.ncbi.nlm.nih.gov/articles/PMC3145207/
  2. Bikic, A., Reichow, B., McCauley, S. A., Ibrahim, K., & Sukhodolsky, D. G. (2017). Meta-analysis of organizational skills interventions for children and adolescents with attention-deficit/hyperactivity disorder. Clinical Psychology Review, 52, 108–123. https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/28088557/
  3. Shaw, P., Stringaris, A., Nigg, J., & Leibenluft, E. (2014). Emotion dysregulation in attention-deficit/hyperactivity disorder. American Journal of Psychiatry, 171(3), 276–293. https://pmc.ncbi.nlm.nih.gov/articles/PMC4282137/
  4. Volkow, N. D., Wang, G.-J., Kollins, S. H., Wigal, T. L., Newcorn, J. H., Telang, F., Fowler, J. S., Zhu, W., Logan, J., Ma, Y., Wong, C., & Swanson, J. M. (2009). Evaluating dopamine reward pathway in ADHD. JAMA (Archives of General Psychiatry), 66(10), 1084–1091.* https://pmc.ncbi.nlm.nih.gov/articles/PMC2958516/
  5. Willcutt, E. G., Doyle, A. E., Nigg, J. T., Faraone, S. V., & Pennington, B. F. (2005). Validity of the executive function theory of attention-deficit/hyperactivity disorder: A meta-analytic review. Biological Psychiatry, 57(11), 1336–1346. https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/15950006/
  6. Durand, G., Arnaud, A., & Huron, C. (2020). Reduced organizational skills in adults with ADHD are due to deficits in persistence, not in strategy generation. BMC Psychiatry, 20, 460. https://pmc.ncbi.nlm.nih.gov/articles/PMC7485505/

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