Brauchen Menschen mit ADHS zusätzliche Nährstoffe?
Immer wieder liest man, dass bestimmte Vitamine, Mineralstoffe oder pflanzliche Extrakte die Symptome einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) verbessern könnten. Doch wie viel Wahrheit steckt wirklich hinter diesen Behauptungen, und was sagen Forschung und Erfahrungsberichte dazu? Kann eine gezielte Nahrungsergänzung tatsächlich helfen, die Konzentration zu steigern, die Impulsivität zu mindern oder die Stimmung zu stabilisieren? Oder handelt es sich dabei eher um gut vermarktete Produkte ohne belegbare Wirkung?
Dieser Artikel geht diesen Fragen auf den Grund und beleuchtet:
- Welche Nährstoffe bei ADHS besonders relevant sind
- In welchen Fällen eine Ergänzung sinnvoll sein kann
- Worauf bei der Auswahl und Einnahme geachtet werden sollte
- Warum „mehr“ nicht immer „besser“ bedeutet
Ziel ist es, eine klare Orientierung zu geben, auf Basis aktueller Studien, praktischer Tipps und einer realistischen Einschätzung der Wirksamkeit. Denn eines ist sicher: Nahrungsergänzung bei ADHS ist ein komplexes Thema, das differenziert betrachtet werden sollte, ohne Panikmache, aber auch ohne falsche Heilsversprechen (Bloch & Qawasmi, 2011).
Wann Nahrungsergänzung bei ADHS sinnvoll sein kann
Nicht jeder Mensch mit ADHS braucht automatisch Nahrungsergänzungsmittel. Entscheidend ist, ob tatsächlich ein Mangel an bestimmten Nährstoffen vorliegt. Studien zeigen: Einige Vitamine und Mineralstoffe sind bei ADHS-Betroffenen häufiger unterversorgt, das kann die Symptome verstärken und die Lebensqualität zusätzlich beeinträchtigen. (Chang et al., 2018)
Warum ein Mangel die Symptome verstärken kann
Ein ausgewogener Nährstoffhaushalt ist entscheidend für:
- eine stabile Hirnfunktion,
- eine gesunde Reizverarbeitung,
- die Regulation von Emotionen.
Fehlt es an bestimmten Vitaminen oder Mineralstoffen, kann dies direkt das Nervensystem beeinflussen, mit Folgen wie:
- Konzentrationsschwäche
- Reizbarkeit
- Stimmungsschwankungen
- innere Unruhe
Häufige Mängel bei ADHS und ihre Auswirkungen
Vitamin D:
- In der Schweiz besonders in den Wintermonaten häufig zu niedrig.
- Ein Mangel wird mit depressiven Verstimmungen, Reizbarkeit und Konzentrationsproblemen assoziiert.
- Wichtig für Immunregulation und den Neurotransmitterstoffwechsel.
Magnesium:
- Essenziell für Nervenreizleitung und Muskelentspannung.
- Ein Defizit kann zu Schlafproblemen, Nervosität und Muskelzuckungen führen.
- Bei ADHS-Betroffenen oft unter dem Normwert.
Zink:
- Zentrale Rolle im Dopaminstoffwechsel, relevant für Aufmerksamkeit und Impulskontrolle.
- Zinkmangel kann emotionale Instabilität und Konzentrationsprobleme begünstigen.
Eisen:
- Besonders Ferritin (Speichereisen) ist bei Kindern mit ADHS häufig vermindert.
- Ein Mangel kann Müdigkeit, Antriebslosigkeit und eine verzögerte kognitive Entwicklung verursachen.
Vitamin B6 und B12:
- Wichtig für Nervensystem und Neurotransmitterbildung.
- Ein Mangel kann sich in Reizbarkeit, Erschöpfung und Gedächtnisproblemen äußern.
- B12-Mangel tritt bei veganer Ernährung häufiger auf.
Wann eine Ergänzung sinnvoll ist
Eine Supplementierung kann sinnvoll sein:
- Wenn ein Mangel labordiagnostisch nachgewiesen wurde (z. B. per Blutuntersuchung)
- Bei einseitiger oder restriktiver Ernährung (z. B. vegan, Fast Food)
- In Zeiten erhöhten Bedarfs, etwa in Stressphasen oder während Prüfungen
- Als ergänzende Maßnahme bei unzureichendem Therapieerfolg
Wichtig: Nahrungsergänzung sollte immer individuell und professionell begleitet erfolgen, idealerweise nach ärztlicher Abklärung des Nährstoffstatus. So lassen sich unerwünschte Wechselwirkungen mit Medikamenten oder eine unnötige Überdosierung vermeiden (Händel et al., 2021).
Merke: Nur das ergänzen, was tatsächlich fehlt und nur in sinnvoller Dosierung (Händel et al., 2021).
Studienlage: Was bringt Nahrungsergänzung wirklich?
Einzelne Studien belegen positive Effekte von Nahrungsergänzungsmitteln, insbesondere dann, wenn ein nachgewiesener Mangel vorliegt. Die Wirkung ist in der Regel jedoch moderat und individuell sehr unterschiedlich (Wang et al., 2017). Wichtig ist daher eine differenzierte Betrachtung:
- Multinährstoff-Präparate: In randomisierten, kontrollierten Studien wurde beobachtet, dass Kombinationen aus Vitaminen, Mineralstoffen und Aminosäuren bei einigen Teilnehmenden zu Verbesserungen der Konzentration, emotionalen Stabilität und allgemeinen Lebensqualität führten. Dabei scheint die Kombination unterschiedlicher Mikronährstoffe teilweise effektiver zu sein als die Einnahme einzelner Substanzen. Die Ergebnisse waren jedoch nicht bei allen Personen gleich ausgeprägt. Besonders Personen mit psychischer Komorbidität (z. B. Depressionen) profitierten teils stärker (Wang et al., 2017).
- Omega-3-Fettsäuren (EPA/DHA): Diese mehrfach ungesättigten Fettsäuren sind am Aufbau von Zellmembranen beteiligt und spielen eine Rolle bei Entzündungsprozessen sowie der Signalübertragung im Gehirn. Studien zeigen, dass insbesondere EPA-reiche Präparate (mind. 500–1000 mg pro Tag) bei Kindern und Erwachsenen mit ADHS helfen können, die Aufmerksamkeitsspanne zu verlängern und Impulsivität zu senken. Erste Effekte zeigen sich meist nach 8–12 Wochen regelmäßiger Einnahme (Wang et al., 2017).
- Magnesium und Zink: Beide Mineralstoffe sind an der Signalweiterleitung im zentralen Nervensystem beteiligt. Erste kleinere Studien deuten darauf hin, dass eine Supplementierung bei einem Mangel positive Effekte auf Reizverarbeitung und Stimmungslage haben kann. Da jedoch bislang große, unabhängige Langzeitstudien fehlen, gelten diese Ergebnisse als vorläufig. Eine gezielte Blutuntersuchung vor der Einnahme wird empfohlen (Wang et al., 2017).
Zusammengefasst lässt sich sagen: Nahrungsergänzung kann unterstützend wirken, ist jedoch kein Ersatz für eine umfassende Therapie. Die individuelle Nährstoffversorgung sollte stets im Mittelpunkt stehen, denn nur bei bestehendem Mangel kann eine Ergänzung ihre volle Wirkung entfalten (Wang et al., 2017).
Risiken durch unkontrollierte Einnahme
Auch bei natürlichen Substanzen gilt: Die Dosis macht das Gift (Effatpanah et al., 2019). Eine willkürliche oder überdosierte Einnahme kann Nebenwirkungen verursachen:
- Überschüsse an Vitamin D, Eisen oder Zink können schädlich sein.
- Bestimmte Aminosäuren können den Transport anderer Wirkstoffe im Gehirn blockieren.
- Einige Präparate beeinflussen die Wirkung von ADHS-Medikamenten.
Unser Tipp: Nahrungsergänzungsmittel nur gezielt nach einer individuellen Diagnostik einsetzen – idealerweise in Rücksprache mit einer Ärztin oder einem Therapeuten (Effatpanah et al., 2019).
Was die Forschung (noch) nicht beantworten kann
Viele Studien zu Nahrungsergänzungsmitteln bei ADHS stammen von Herstellern selbst – entsprechend kritisch sollten diese Ergebnisse betrachtet werden (Khoshbakht et al., 2018). Aussagekräftiger sind Studien:
- mit unabhängiger Finanzierung
- mit großen Probandenzahlen
- mit Wiederholungen durch verschiedene Forscherteams
Derzeit ist klar: Nahrungsergänzung kann unterstützend wirken, aber nicht ersetzen:
- Keine Alternative zur Medikation, wenn diese medizinisch notwendig ist.
- Keine Wunderlösung bei komplexen Symptombildern (Khoshbakht et al., 2018).
Welche Nahrungsergänzungsmittel sind bei ADHS verbreitet?
Hier eine Übersicht über die am häufigsten eingesetzten Substanzen:
| Nährstoff | Mögliche Wirkung | Hinweise zur Einnahme |
| Omega-3-Fettsäuren | Konzentration, Stimmung, Impulskontrolle | Hochdosiert (EPA-reich), mind. 12 Wochen |
| Magnesium | Beruhigend, Schlafunterstützend | Bei Mangelzustand prüfen |
| Zink | Dopaminregulation, Konzentration | Spiegel im Blut messen lassen |
| Vitamin D | Stimmung, Immunfunktion | Besonders im Winter ergänzen |
| Eisen | Energie, kognitive Leistungsfähigkeit | Ferritin-Wert beachten |
| B-Vitamine (B6, B12) | Nervensystem, Energie | Kombi-Präparate sinnvoll |
Fazit: Nahrungsergänzung bei ADHS: ja oder nein?
Kurz gesagt: Nahrungsergänzung kann sinnvoll sein, wenn ein Mangel vorliegt. Ohne Diagnostik ist die Einnahme jedoch nicht empfehlenswert. Wer auf Nahrungsergänzung setzt, sollte auf qualitativ hochwertige Präparate achten, Dosierungen einhalten und Geduld mitbringen, viele Wirkungen zeigen sich erst nach mehreren Wochen (Rucklidge et al., 2018).
Unsere Empfehlung:
- Lass regelmäßig deinen Nährstoffstatus überprüfen (z. B. bei Hausarzt oder Therapeut).
- Verzichte auf «Wundermittel» ohne wissenschaftlichen Nachweis.
- Kombiniere eine ausgewogene Ernährung mit Bewegung, Struktur und professioneller Begleitung.
Nahrungsergänzung ist kein Ersatz, aber eine mögliche Unterstützung auf dem Weg zu mehr Alltagssicherheit mit ADHS (Rucklidge et al., 2018).