Essen als Kompensation: ADHS & emotionales Essverhalten

Veröffentlicht am: 01. Oktober 2025
Zuletzt ärztlich geprüft am: 08. Oktober 2025

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Porträt von Dr. med. Jens Westphal, Praktischer Arzt FMH und medizinischer Reviewer bei klaro-adhs.ch. Er begleitet Patientinnen und Patienten in der Schweiz bei der Abklärung und Behandlung von ADHS. Das Bild zeigt ihn vor einem klaro-Hintergrund als Teil des ärztlichen Teams für ADHS Schweiz.

Dr. med. Jens Westphal

ADHS-Spezialist und Praktischer Arzt (FMH)
Dr. med. Jens Westphal ist Praktischer Arzt (FMH) mit langjähriger Erfahrung in der hausärztlichen Versorgung und Psychiatrie. Er ist medizinischer Reviewer bei klaro-adhs.ch und prüft alle Inhalte rund um ADHS, Diagnostik und Therapie auf wissenschaftliche Genauigkeit und praktische Umsetzbarkeit in der Schweizer Grundversorgung.

Inhaltsverzeichnis

Viele Menschen mit ADHS erleben, dass ihre Essgewohnheiten stark mit ihren Emotionen verknüpft sind. Essen wird dann nicht nur zur Nahrungsaufnahme, sondern erfüllt auch eine emotionale Funktion, als Trostspender, Stressregulator oder einfach als kurzfristige Ablenkung. Häufig ersetzt Essen fehlende Bewältigungsstrategien, weil es schnell verfügbar ist und kurzfristig für Beruhigung sorgt (Mayer et al., 2015).

Typische Auslöser für emotionales Essen

  • Stressige Momente: Essen dient zur Beruhigung, oft ohne echten Hunger.
  • Langeweile: Das Gehirn verlangt nach Reizen, Essen ist leicht verfügbar.
  • Innere Unruhe oder Frust: Der Snack ersetzt fehlende Strategien zur Emotionsregulation.
  • Belohnung: Nach einem anstrengenden Tag wird sich «etwas gegönnt»(Mayer et al., 2015).

Dabei handelt es sich keineswegs um «Schwäche» oder mangelnde Disziplin. Vielmehr zeigt sich hier eine neurobiologisch bedingte Form des Copings, die bei ADHS-Betroffenen besonders ausgeprägt ist:

  • Die Fähigkeit, Impulse zu kontrollieren, ist oft eingeschränkt.
  • Emotionen werden intensiver erlebt und schlechter reguliert.
  • Der Wunsch nach schneller Belohnung ist erhöht, Essen bietet sich als kurzfristiger Ausweg an.

Wichtig zu wissen: Emotionales Essen erfüllt kurzfristig einen Zweck, nämlich, sich besser zu fühlen. Doch langfristig kann es zu einem Teufelskreis führen, wenn keine alternativen Strategien zur Verfügung stehen. Deshalb lohnt es sich, das eigene Verhalten zu reflektieren und neue Wege zur Emotionsbewältigung zu finden (Mayer et al., 2015).

Warum ADHS-Betroffene besonders anfällig sind

Menschen mit ADHS bringen eine Vielzahl neurobiologischer Besonderheiten mit, die ihr Essverhalten direkt beeinflussen können. Dazu zählen eine erhöhte Empfindlichkeit gegenüber Reizen, eine verminderte Impulskontrolle sowie häufige Schwierigkeiten in der Emotionsregulation. Diese Eigenschaften machen sie besonders anfällig für emotionales und impulsives Essverhalten (Yano et al., 2015).

Typische Einflussfaktoren im ÜberblickEine bunte Auswahl an Süssigkeiten wie Donuts, Gummibärchen und Schokolade liegt auf einem hellblauen Untergrund, umwickelt von einem Massband. Das Bild thematisiert den Zusammenhang von Ernährung, Gewicht und Gesundheit. Im Kontext von ADHS Schweiz wird oft diskutiert, wie Zucker das Verhalten beeinflussen kann.

  • Impulsivität: Spontanes Zugreifen auf Essen, oft ausgelöst durch äußere Reize (z. B. der Anblick eines Snacks), auch ohne tatsächliches Hungergefühl. Entscheidungen werden unterbewusst und schnell getroffen, die bewusste Kontrolle setzt oft zu spät ein (Yano et al., 2015).
  • Emotionale Reaktionen: Ärger, Stress, Langeweile oder Traurigkeit werden häufig durch Essen kompensiert. Es entsteht ein Muster, bei dem negative Gefühle nicht verarbeitet, sondern überdeckt werden (Yano et al., 2015).
  • Reizsuche: Das ADHS-Gehirn ist ständig auf der Suche nach Stimulation. Kalorienreiche, süße oder salzige Lebensmittel liefern kurzfristig einen „Kick“, weil sie das Belohnungssystem aktivieren und Dopamin freisetzen (Yano et al., 2015).
  • Unregelmässigkeit: Aufgrund von Vergesslichkeit oder Schwierigkeiten mit der Tagesstruktur werden Mahlzeiten oft ausgelassen oder zu unregelmäßigen Zeiten eingenommen. Das führt zu Heißhungerphasen und verstärkt impulsives Essen (Bravo et al., 2011).
  • Körpersignale überhören: Betroffenen fällt es schwer, Hunger- und Sättigungssignale zuverlässig zu erkennen. Die Folge: Sie essen „vorsorglich“ oder über ihren natürlichen Bedarf hinaus (Bravo et al., 2011).

Tipp für den Alltag: Eine strukturierte Umgebung mit festen Essenszeiten, vorbereiteten Snacks und möglichst wenig visuellen Reizen (z. B. keine Süßigkeiten sichtbar auf dem Tisch) kann helfen, impulsives Essverhalten zu reduzieren. Auch Routinen und einfache Regeln, wie „Nur am Tisch essen“ oder „Ein Glas Wasser vor jedem Snack“, unterstützen das Bewusstsein für echtes Hungergefühl (Bravo et al., 2011).

Typische Muster bei emotionalem Essen

Viele ADHS-Betroffene erkennen sich in folgenden Mustern wieder:

  • Essen aus Langeweile: Besonders in Momenten ohne klare Struktur.
  • Belohnungsessen: «Ich war heute produktiv, also verdiene ich mir…»
  • Kompensationsverhalten: Essen als Trost bei negativen Gefühlen.
  • Snacken ohne Hunger: Dauerhaftes Nebenbei-Essen ohne echte Sättigung.
  • Essen als Pause: Der Snack dient als kurzer Break im Arbeitsalltag oder zwischen Aufgaben.

Diese Muster laufen oft automatisiert ab, eine bewusste Auseinandersetzung hilft, Alternativen zu entwickeln (Aarts et al., 2017).

Die Folgen: Kurzfristige Erleichterung, langfristiger Stress

Auch wenn emotionales Essen kurzfristig beruhigt, kann es langfristig zu Problemen führen:

  • Gewichtszunahme und Unzufriedenheit mit dem Körper
  • Schlechtes Gewissen und Scham nach dem Essen
  • Verstärkung des Teufelskreises: Stress → Essen → Reue → neuer Stress
  • Fehlende Selbstwirksamkeit: Das Gefühl, Essverhalten nicht kontrollieren zu können, belastet zusätzlich (Aarts et al., 2017)

Strategien gegen emotionales Essverhalten bei ADHS

  1. Achtsamkeit fördernEine junge Frau isst genussvoll einen pinken Donut, während mehrere Hände ihr weitere Donuts anbieten. Das Bild symbolisiert übermässiges Essen und Heisshungerattacken. Gerade bei ADHS Schweiz wird emotionales Essverhalten als häufige Begleiterscheinung thematisiert.

  • Führe ein Ess-Tagebuch, um Auslöser, Emotionen und Essverhalten festzuhalten, so erkennst du wiederkehrende Muster (Aarts et al., 2017).
  • Stelle dir vor dem Essen bewusst die Frage: «Habe ich wirklich körperlichen Hunger oder reagiere ich gerade emotional?»
  • Übung: 5-Minuten-Pause, bevor du impulsiv isst, trinke in dieser Zeit ein Glas Wasser, atme tief durch und beobachte deine Gedanken.
  • Nutze achtsames Essen, indem du ohne Ablenkung (z. B. Handy oder Fernseher) isst und bewusst kaust, das hilft, Sättigung besser wahrzunehmen (Aarts et al., 2017).
  1. Reize umlenken

  • Suche gezielt nach nicht-essbaren Belohnungen, die dir guttun: Musik hören, ein Bad nehmen, spazieren gehen, Lieblingsserie schauen (Aarts et al., 2017).
  • Lege dir eine «Notfallliste» mit konkreten Aktivitäten oder Strategien an, die dir in emotional schwierigen Momenten helfen können (Aarts et al., 2017).
  • Strukturiere deinen Alltag mit kleinen Highlights, z. B. einem schönen Kaffee am Nachmittag, einem Telefonat mit einer Freundin oder einem Hobby.
  • Halte Ablenkungsobjekte bereit, z. B. Knete, Stressball, Malbuch oder Puzzle, um deine Hände und Gedanken zu beschäftigen (Aarts et al., 2017).
  1. Routinen aufbauen

  • Etabliere feste Mahlzeiten zu bestimmten Zeiten, um deinen Blutzuckerspiegel stabil zu halten und Heißhunger vorzubeugen (Aarts et al., 2017).
  • Achte auf eine regelmässige Zufuhr von Protein und Ballaststoffen, z. B. durch Nüsse, Hülsenfrüchte, Vollkornprodukte oder Eier (Prehn-Kristensen et al., 2018).
  • Meal Prep: Bereite Mahlzeiten oder Snacks im Voraus vor, damit du in stressigen Momenten auf gesunde Optionen zurückgreifen kannst (Prehn-Kristensen et al., 2018).
  • Halte gesunde, leicht zugängliche Snacks bereit (z. B. geschnittenes Gemüse, Hummus, hartgekochte Eier), um spontane Essattacken zu vermeiden (Prehn-Kristensen et al., 2018).
  1. Impulskontrolle trainieren

  • Setze dir kleine Ziele: z. B. «Heute esse ich bewusst nur eine Portion Chips», das stärkt deine Selbstwirksamkeit (Pärtty et al., 2015).
  • Verwende Timer oder Apps zur Entscheidungsunterstützung, etwa eine 10-Minuten-Wartezeit, bevor du einem Essimpuls nachgibst (Pärtty et al., 2015).
  • Erinnere dich daran: Der Impuls geht vorbei, überbrücke die Zeit mit Alternativen, wie einem Spaziergang oder einem kurzen Tagebucheintrag (Pärtty et al., 2015).
  • Entwickle Belohnungssysteme, die nicht mit Essen zu tun haben, z. B. ein Stickerbuch oder ein Belohnungsglas.
  1. Emotionen regulieren

  • Beobachte deine emotionalen Auslöser im Alltag: Wann isst du aus Frust, Stress, Überforderung oder Langeweile?
  • Nutze gezielt Entspannungstechniken wie tiefe Bauchatmung, progressive Muskelentspannung, Yoga oder Meditation.
  • Bewegung hilft, Stress abzubauen, schon ein kurzer Spaziergang oder ein paar Hampelmänner können Spannungen lösen.
  • Therapie oder Coaching kann dir helfen, die Hintergründe deines emotionalen Essverhaltens besser zu verstehen und langfristige Veränderungen zu etablieren.

Diese erweiterten Strategien geben dir mehr Werkzeuge an die Hand, um emotionales Essen bewusst zu steuern und langfristig gesündere Muster zu etablieren. Es geht nicht um Verzicht – sondern um Selbstfürsorge (Wastyk et al., 2021).

Fazit: Essen darf emotional sein, aber nicht unkontrolliert

Emotionales Essverhalten bei ADHS ist verbreitet, und kein Zeichen von Schwäche. Wenn du erkennst, welche Mechanismen dahinterstecken, kannst du bewusstere Entscheidungen treffen. Ziel ist nicht, perfekt zu essen, sondern einen entspannteren Umgang mit Essen, Gefühlen und dir selbst zu finden.

Unser Tipp: Fang klein an. Beobachte dich ohne Bewertung, finde Alternativen und hole dir Unterstützung, wenn du merkst, dass du allein nicht weiterkommst. Du musst diesen Weg nicht alleine gehen.

Rezensentenblock

Porträt von Dr. Almedina Berisha, Ärztin im Team von klaro-adhs.ch. Sie unterstützt Patientinnen und Patienten bei der Diagnostik und Therapie von ADHS in der Schweiz. Das Bild zeigt sie im weissen Arztkittel mit Stethoskop vor einem klaro-Hintergrund.

Almedina Berisha

Ärztin Innere Medizin
Almedina Berisha ist Ärztin für Innere Medizin in der Schweiz mit besonderem Interesse an psychosomatischen Zusammenhängen und neurobiologischen Faktoren von ADHS. Sie prüft medizinische Inhalte auf klaro-adhs.ch auf wissenschaftliche Genauigkeit, klinische Relevanz und patientenverständliche Darstellung. Ihr Fokus liegt auf einer praxisnahen Vermittlung komplexer Themen der Erwachsenenmedizin und psychischen Gesundheit.

Häufig gestellte Fragen (FAQ)

  • In der Schweiz ist ADHS grundsätzlich keine anerkannte Invaliditätsursache, kann aber je nach Schweregrad zu einer Teilinvalidität oder IV-Leistung führen – etwa bei starker Einschränkung im Berufsleben oder Studium. Eine Entschädigung ist möglich, wenn nachweislich ein erheblicher Leidensdruck oder Arbeitsunfähigkeit besteht. Entscheidend ist die individuelle Beurteilung durch Ärzt:innen und Versicherungen.

Quellenverzeichnis

  1. Mayer, E. A., Tillisch, K., & Gupta, A. (2015). Gut/brain axis and the microbiota. The Journal of Clinical Investigation, 125(3), 926–938. https://www.jci.org/articles/view/76304  
  2. Yano, J. M., Yu, K., Donaldson, G. P., Shastri, G. G., Ann, P., Ma, L., Nagler, C. R., Ismagilov, R. F., Mazmanian, S. K., & Hsiao, E. Y. (2015). Indigenous bacteria from the gut microbiota regulate host serotonin biosynthesis. Cell, 161(2), 264–276. https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/25860609/
  3. Bravo, J. A., Forsythe, P., Chew, M. V., Escaravage, E., Savignac, H. M., Dinan, T. G., Bienenstock, J., & Cryan, J. F. (2011). Ingestion of Lactobacillus strain regulates emotional behavior and central GABA receptor expression in a mouse via the vagus nerve. Proceedings of the National Academy of Sciences of the USA, 108(38), 16050–16055. https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/21876150/
  4. Aarts, E., Ederveen, T. H. A., Naaijen, J., Zwiers, M. P., Boekhorst, J., Timmerman, H. M., et al. (2017). Gut microbiome in ADHD and its relation to neural reward anticipation. PLOS ONE, 12(9), e0183509. https://journals.plos.org/plosone/article?id=10.1371/journal.pone.0183509
  5. Prehn-Kristensen, A., Zimmermann, A., Tittmann, L., Lieb, W., Schreiber, S., Baving, L., & Fischer, A. (2018). Reduced microbiome alpha diversity in young patients with ADHD. PLOS ONE, 13(7), e0200728. https://journals.plos.org/plosone/article?id=10.1371/journal.pone.0200728
  6. Pärtty, A., Kalliomäki, M., Wacklin, P., Salminen, S., & Isolauri, E. (2015). A possible link between early probiotic intervention and the risk of neuropsychiatric disorders later in childhood: A randomized trial. Pediatric Research, 77(6), 823–828. https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/25760553/
  7. Wastyk, H. C., Fragiadakis, G. K., Perelman, D., Dahan, D., Merrill, B. D., Yu, F. B., et al. (2021). Gut-microbiota-targeted diets modulate human immune status. Cell, 184(16), 4137–4153.e14. https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/34256014/

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