ADHS ist vielen nur als «Zappelphilipp-Syndrom» bei Kindern bekannt. Doch die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung betrifft nicht nur Kinder, sondern auch Erwachsene – oft ohne dass sie es wissen oder jemals eine formelle Diagnose erhalten haben. Viele Betroffene erleben jahrzehntelang Schwierigkeiten im Alltag, im Beruf oder in Beziehungen, ohne den Grund dafür zu kennen. In diesem Artikel erklären wir verständlich und fundiert, was ADHS wirklich ist, wie es sich bei Erwachsenen zeigt, welche Ursachen zugrunde liegen, wie sich die Symptome ändern können und welche Perspektiven eine frühe Diagnose und geeignete Behandlung bieten (da Silva et al., 2023).
Was heißt ADHS? Definition & Bedeutung
Die Abkürzung ADHS steht für Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung. Es handelt sich dabei um eine neurobiologisch bedingte Entwicklungsstörung, die bereits im Kindesalter beginnt und häufig bis ins Erwachsenenalter bestehen bleibt (da Silva et al., 2023). Die typischen Merkmale sind:
- Störungen der Aufmerksamkeit
- Impulsives Verhalten
- Übermäßige motorische oder innere Unruhe
ADHS ist laut ICD-10 und DSM-5 als eigenständige Diagnose anerkannt und keine Erfindung der Neuzeit. Zahlreiche wissenschaftliche Studien belegen, dass ADHS auf spezifischen neurobiologischen Unterschieden im Gehirn beruht (da Silva et al., 2023).
Es gibt verschiedene Subtypen, darunter auch das «vorwiegend unaufmerksame» ADS, bei dem die Hyperaktivität weniger stark ausgeprägt ist. Dieser Typus wird vor allem bei Frauen häufig übersehen, da die Symptome subtiler erscheinen und sich eher in Form von Tagträumerei oder innerer Unruhe zeigen (da Silva et al., 2023).
Was ist ADHS für eine Krankheit?
ADHS ist keine Modeerscheinung, sondern eine chronische Störung der neuronalen Selbststeuerung. Das bedeutet, dass betroffene Personen Schwierigkeiten haben, ihre Aufmerksamkeit, Impulssteuerung, Motivation und Emotionen zielgerichtet zu regulieren. Dies führt zu erhöhter Ablenkbarkeit, unkontrolliertem Verhalten und Schwierigkeiten in der Planung und Ausführung von Aufgaben (Fullen et al., 2020).
Die zugrunde liegende Ursache liegt in der Funktionsweise des Gehirns, insbesondere in folgenden Regionen:
- Präfrontaler Cortex: Verantwortlich für Planung, Entscheidungsfindung und Impulskontrolle
- Basalganglien: Beteiligt an Motivation und Bewegungssteuerung
- Kleinhirn: Zuständig für zeitliche Koordination und automatisierte Abläufe
Ein Ungleichgewicht der Neurotransmitter Dopamin und Noradrenalin führt dazu, dass Reize im Gehirn nicht optimal verarbeitet werden. Die Reaktionsfähigkeit auf externe und interne Impulse ist gestört (Fullen et al., 2020).
Typische Symptome von ADHS
Die Symptome von ADHS variieren je nach Lebensalter, Geschlecht und individueller Ausprägung. Bei Erwachsenen zeigen sich die Beschwerden häufig weniger durch äußerliche Unruhe, sondern mehr durch eine «innere Getriebenheit» oder anhaltende Schwierigkeiten im Alltag (Fullen et al., 2020).
- Unaufmerksamkeit
- Starke Ablenkbarkeit, z. B. beim Lesen oder Arbeiten
- Leichte Vergesslichkeit, v. a. bei Alltagsaufgaben
- Mangelnde Organisationsfähigkeit, Chaos im Alltag
- Schwierigkeiten, Anweisungen zu folgen oder Aufgaben zu beenden
- Impulsivität
- Vorpreschen ohne Überlegen (z. B. in Gesprächen oder Entscheidungen)
- Unbedachte Ausgaben oder riskantes Verhalten
- Emotionale Ausbrüche oder Stimmungsschwankungen
- Probleme mit dem Einhalten von Regeln und Strukturen
- Hyperaktivität / Innere Unruhe
- Ständiges Gedankenkreisen
- Bewegungsdrang (z. B. Wippen mit den Beinen, Herumlaufen)
- Schlafprobleme und Einschlafschwierigkeiten
- Gereiztheit bei Ruhe oder Langeweile
Diese Symptome wirken sich oft negativ auf den Berufsalltag, zwischenmenschliche Beziehungen und das Selbstwertgefühl aus (Fullen et al., 2020).
ADHS bei Erwachsenen
Bei Erwachsenen kann ADHS besonders schwer zu erkennen sein. Die Betroffenen haben oft gelernt, ihre Symptome zu kompensieren, z. B. durch äußerste Strukturierung oder Perfektionismus. Dennoch können alltägliche Anforderungen schnell überwältigend wirken (Wakelin et al., 2023). Folgende Lebensbereiche sind besonders betroffen:
Beruf
- Konzentrationsprobleme, Unzuverlässigkeit
- Schwierigkeiten mit Deadlines und Projektmanagement
- Konflikte mit Kolleginnen und Kollegen
Beziehungen
- Emotionale Überreaktionen, Missverständnisse
- Impulsives Verhalten in Konfliktsituationen
- Probleme mit Langfristigkeit und Bindung
Alltag & Selbstwert
- Chaos im Haushalt, vergessene Termine
- Gefühle des Scheiterns und Versagens
- Selbstkritik und depressive Verstimmungen
Viele Betroffene erfahren erst spät eine Diagnose, häufig im Rahmen der Diagnostik ihrer Kinder (Wakelin et al., 2023). Die Erkenntnis führt oft zu einer Mischung aus Erleichterung und Bedauern: «Hätte ich das nur früher gewusst.»
Ursachen von ADHS
Die Ursachen von ADHS sind komplex und nicht auf einen einzigen Auslöser zurückzuführen (Wakelin et al., 2023). Vielmehr handelt es sich um ein Zusammenspiel verschiedener Faktoren:
- Genetik
- ADHS ist zu einem großen Teil vererbbar. Wenn ein Elternteil betroffen ist, besteht ein deutlich erhöhtes Risiko für die Kinder.
- Bestimmte Gene, die für den Dopamin-Stoffwechsel zuständig sind, treten bei ADHS-Betroffenen häufiger auf.
- Neurobiologische Ursachen
- Fehlfunktionen in der Signalübertragung, insbesondere Dopamin und Noradrenalin
- Veränderungen in der Gehirnstruktur und -funktion (z. B. verminderte Aktivität im Frontalhirn)
- Umweltfaktoren
- Komplikationen in der Schwangerschaft (z. B. Stress, Rauchen, Alkohol)
- Sauerstoffmangel bei der Geburt
- Vernachlässigung, Traumata oder instabile familiäre Verhältnisse
Wichtig ist: Eltern sind nicht schuld an ADHS. Die Erziehung kann den Verlauf beeinflussen, ist aber nicht ursächlich für das Entstehen der Störung (Wakelin et al., 2023).
Verlauf & Prognose
ADHS ist eine lebenslange Disposition, die sich im Laufe der Zeit wandelt. Viele Kinder mit ADHS zeigen im Erwachsenenalter abgeschwächte Symptome, aber auch neue Herausforderungen (Cortese, 2012).
Ohne Diagnose und Therapie
- Schulabbrüche, Probleme in Ausbildung oder Beruf
- Erhöhtes Risiko für Depressionen, Angststörungen oder Suchterkrankungen
- Instabile soziale Beziehungen, finanzielle Schwierigkeiten
Mit früher Diagnose und passender Behandlung
- Stärkere Selbstakzeptanz und bessere Selbststeuerung
- Verbesserte Bewältigungsstrategien und Struktur im Alltag
- Höhere Lebenszufriedenheit und -qualität
Entscheidend ist, dass Betroffene Zugang zu einer individuellen und professionellen Behandlung erhalten. Diese kann multimodal erfolgen: Psychotherapie, medikamentöse Therapie, Coaching und Alltagshilfen können kombiniert werden (Ostinelli et al., 2025).
ADHS verstehen & annehmen
Die Diagnose ADHS kann ein Schlüsselmoment sein: Endlich ergibt vieles einen Sinn. Viele Erwachsene berichten, dass sie sich zum ersten Mal in ihrem Leben wirklich verstanden fühlen.
Statt sich selbst für Unzulänglichkeiten verantwortlich zu machen, können sie beginnen, ihre Besonderheiten als Teil ihrer Identität zu akzeptieren. ADHS ist keine Schwäche, sondern eine andere Art zu denken, zu fühlen und zu handeln (Bellato et al., 2025).
Wichtig ist der Aufbau von Selbstmitgefühl und ein Umfeld, das die eigenen Stärken erkennt. Menschen mit ADHS sind oft kreativ, intuitiv, humorvoll und leidenschaftlich – wenn sie ihre Energie in die richtigen Bahnen lenken können (Bellato et al., 2025).
Fazit
ADHS ist eine komplexe, aber behandelbare neurobiologische Störung, die weit mehr Menschen betrifft als lange angenommen. Gerade im Erwachsenenalter bleibt sie oft unerkannt, obwohl die Belastung im Alltag erheblich sein kann. Eine frühzeitige Abklärung, fachkundige Begleitung und individuelle Therapieansätze können Betroffenen helfen, ihr Potenzial besser zu entfalten.
Wer sich in den beschriebenen Symptomen wiedererkennt, sollte den Schritt zur Abklärung wagen. Es ist nie zu spät, sich selbst besser zu verstehen und neue Wege zu gehen.
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