Ein Tag mit ADHS: 5 Einblicke in den echten Alltag

Veröffentlicht am: 01. Oktober 2025
Zuletzt ärztlich geprüft am: 08. Oktober 2025

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Porträt von Dr. med. Jens Westphal, Praktischer Arzt FMH und medizinischer Reviewer bei klaro-adhs.ch. Er begleitet Patientinnen und Patienten in der Schweiz bei der Abklärung und Behandlung von ADHS. Das Bild zeigt ihn vor einem klaro-Hintergrund als Teil des ärztlichen Teams für ADHS Schweiz.

Dr. med. Jens Westphal

ADHS-Spezialist und Praktischer Arzt (FMH)
Dr. med. Jens Westphal ist Praktischer Arzt (FMH) mit langjähriger Erfahrung in der hausärztlichen Versorgung und Psychiatrie. Er ist medizinischer Reviewer bei klaro-adhs.ch und prüft alle Inhalte rund um ADHS, Diagnostik und Therapie auf wissenschaftliche Genauigkeit und praktische Umsetzbarkeit in der Schweizer Grundversorgung.

Inhaltsverzeichnis

Wie fühlt sich ein ganz normaler Tag mit ADHS an? Für viele Betroffene gleicht er einem ständigen Balanceakt, zwischen dem Wunsch nach Kontrolle und den impulsiven, oft unvorhersehbaren Reaktionen des eigenen Gehirns. Der Tag beginnt häufig mit einem Gefühl der Überforderung, das sich wie ein roter Faden durch alle Lebensbereiche zieht. Entscheidungen fallen schwer, Ablenkungen sind allgegenwärtig, und selbst kleinste Aufgaben können plötzlich zu unüberwindbaren Hürden werden. Es ist, als würde man versuchen, bei starkem Wind auf einem Seil zu balancieren, mit wechselnden Rhythmen und ohne Netz (French et al., 2024).

Typische Begleiterscheinungen wie Reizüberflutung, Gedankensprünge, spontane Aktivitätsimpulse und plötzlicher Energieabfall machen den Alltag zu einer ständigen Herausforderung. Gleichzeitig gibt es aber auch Momente intensiver Konzentration, Kreativität und Begeisterung. Struktur ist zwar hilfreich, aber keine einmalige Lösung, sie muss täglich neu aufgebaut, angepasst und oft auch kreativ improvisiert werden (French et al., 2024).

Im Folgenden geben wir dir fünf konkrete Momentaufnahmen, die zeigen, wie unterschiedlich, komplex und gleichzeitig herausfordernd ein Alltag mit ADHS sein kann, von den ersten Minuten am Morgen bis zur Reflexion am Abend (French et al., 2024).

  1. Der Morgen: Viel los im Kopf, wenig Handlung

  • Der Wecker klingelt, aber das Aufstehen dauert ewig. Der erste Impuls ist häufig, die Decke über den Kopf zu ziehen.Eine elegante Sanduhr mit feinem, braunem Sand steht auf einem hellen Untergrund, im Hintergrund sind getrocknete Blätter zu sehen. Im Kontext von ADHS Schweiz wird oft thematisiert, wie bewusste Zeitstrukturierung helfen kann, Stress und Überforderung zu vermeiden. Visuelle Timer wie Sanduhren sind einfache, aber effektive Hilfsmittel.
  • Schon beim Zähneputzen geht der Kopf auf Hochbetrieb: Aufgaben, Termine, lose Gedankenstränge schwirren durcheinander.
  • Frühstück? Wird oft ausgelassen oder zwischendurch im Stehen eingenommen, wenn überhaupt.
  • Der Griff zum Handy führt schnell zu einem Zeitverlust durch Scrollen, Nachrichtenlesen oder unerwartete Ablenkungen.
  • Die Zeit rennt, der Start in den Tag fühlt sich oft wie ein Wettlauf gegen sich selbst an.

Typisches Problem:

  • Übergänge zwischen einzelnen Handlungen sind besonders schwerfällig: Vom Bett ins Bad, vom Bad zum Frühstückstisch, vom Tisch an den Schreibtisch.
  • Die Reizverarbeitung ist direkt am Morgen überaktiv, schon kleine Impulse (Licht, Geräusche, Nachrichten) können das Nervensystem überfordern.
  • Oft entsteht früh das Gefühl, „nicht hinterherzukommen“, was den weiteren Tagesverlauf belastet.

Was helfen kann:

  • Eine strukturierte Morgenroutine mit klaren Zeitrahmen, am besten schriftlich festgehalten (French et al., 2024).
  • Erinnerungsfunktionen wie ein Wecker mit kurzen Aufgabenhinweisen (zum Beispiel: «Zähneputzen jetzt», «Frühstück machen») unterstützen den Ablauf (French et al., 2024).
  • Kleidung, Tasche und Frühstück am Vorabend vorbereiten, um Entscheidungslast am Morgen zu reduzieren (French et al., 2024).
  • Eine reizarme Umgebung schaffen: kein Handy in den ersten 30 Minuten, gedämpftes Licht, ruhige Musik oder Stille (French et al., 2024).
  • Kleine Bewegungseinheit direkt nach dem Aufstehen (z. B. Dehnen oder ein kurzer Spaziergang), um das Gehirn in den Aktivitätsmodus zu bringen (French et al., 2024).
  1. Arbeit oder Studium: Reizüberflutung & Hyperfokus

  • Schon auf dem Weg zur Arbeit kann eine Reizüberflutung beginnen, etwa durch Geräusche, Verkehrslärm, viele Menschen oder wechselnde Eindrücke auf dem Smartphone.
  • Am Arbeitsplatz fällt der Einstieg oft schwer: Der Kopf ist voll, die To-do-Liste lang, doch der Zugang zu einer Aufgabe bleibt vage.
  • Plötzlich zündet ein Thema Interesse, und es kommt zum Hyperfokus. Man arbeitet stundenlang intensiv an einer Sache, oft mit beeindruckender Konzentration.
  • Dabei geraten Grundbedürfnisse wie Essen, Trinken oder Toilettengänge in den Hintergrund.
  • Nach dieser Phase folgt häufig ein «Reizkater»: Der Körper ist erschöpft, das Gehirn überfordert. Man zieht sich zurück, fühlt sich leer oder sogar reizbar.

Typisches Problem:

Was helfen kann:

  • Aufgaben vorab in kleine, realistische Schritte gliedern und priorisieren (am besten schriftlich).
  • Bewusst Pausen einplanen, z. B. mit einem Wecker oder Kalender-Reminder.
  • Regelmässige Check-ins mit sich selbst: «Wie geht es mir gerade? Habe ich gegessen?»
  • Eine möglichst reizarme Umgebung schaffen: Lärmreduzierende Kopfhörer, aufgeräumter Schreibtisch, geregelte Arbeitszeiten.
  • Übergänge aktiv gestalten, z. B. durch kurze Bewegung, Frischluft oder bewusste Achtsamkeitsmomente
  1. Nachmittag: Chaos zwischen To-dos und Erschöpfung

Eine junge Frau hat den Kopf auf ein offenes Buch gelegt, während sie noch einen Stift in der Hand hält – sie wirkt erschöpft und überfordert. Der Arbeitsbereich ist chaotisch, was auf eine Überlastung hindeutet. In der ADHS Schweiz Diagnostik sind solche Symptome typische Anzeichen für kognitive Überforderung.

  • Noch offene Aufgaben drängen, aber die Energie sinkt.
  • Termine werden vergessen oder zu spät wahrgenommen.
  • Der Haushalt bleibt liegen, oder wird mit plötzlicher Energie übererfüllt.
  • Konflikte mit Mitbewohnern, Familie oder Partnern wegen impulsivem Verhalten.

Typisches Problem:

Was helfen kann:

  • Feste Tagesstruktur mit klaren Zeitfenstern für To-dos.
  • Strukturierte Checklisten.
  • Reizreduktion durch Pausen oder Bewegung an der frischen Luft.
  1. Abend: Abschalten fällt schwer

  • Der Körper ist erschöpft, der Kopf bleibt aktiv.
  • Gedanken springen, Rückblicke auf den Tag erzeugen Schuldgefühle.
  • Einschlafprobleme durch Grübeln und innere Unruhe.
  • Der Griff zum Handy verlängert die Wachphase, obwohl man eigentlich müde ist.

Typisches Problem:

Was helfen kann:

  • Feste Abendroutine, z. B. Licht dimmen, ruhige Tätigkeiten.
  • Kein Bildschirm in der letzten Stunde vor dem Schlafen.
  • Einschlafrituale (z. B. Hörbuch, Atemübung, Journaling).
  1. Selbstbild & Rückblick: Zwischen Frust und Hoffnung

  • Viele ADHS-Betroffene reflektieren am Abend kritisch:
    • «Wieder nicht alles geschafft.»
    • «Warum bin ich so chaotisch?»
    • «Warum ist jeder Tag so anstrengend?»
  • Doch es gibt auch die andere Seite:
    • «Ich habe heute zwei wichtige Aufgaben erledigt.»
    • «Ich habe mich selbst nicht verurteilt.»
    • «Ich habe rechtzeitig eine Pause gemacht.»

Was helfen kann:

  • Ein positives Abendjournal: Was lief gut?
  • Kleine Erfolge sichtbar machen.
  • Mitfühlender Umgang mit sich selbst statt ständiger Selbstkritik.

Fazit:

Ein Tag mit ADHS ist nicht linear, er ist eine Abfolge von intensiven Reizen, Höhen und Tiefen. Mit einer individuellen Struktur, realistischen Erwartungen und der Bereitschaft zur Selbstfürsorge kann der Alltag aber deutlich entlastet werden. Wichtig ist: Jeder Tag ist eine neue Chance, etwas anders zu machen, und sich selbst dabei nicht aus den Augen zu verlieren (Scholz et al., 2014).

Rezensentenblock

Porträt von Dr. Almedina Berisha, Ärztin im Team von klaro-adhs.ch. Sie unterstützt Patientinnen und Patienten bei der Diagnostik und Therapie von ADHS in der Schweiz. Das Bild zeigt sie im weissen Arztkittel mit Stethoskop vor einem klaro-Hintergrund.

Almedina Berisha

Ärztin Innere Medizin
Almedina Berisha ist Ärztin für Innere Medizin in der Schweiz mit besonderem Interesse an psychosomatischen Zusammenhängen und neurobiologischen Faktoren von ADHS. Sie prüft medizinische Inhalte auf klaro-adhs.ch auf wissenschaftliche Genauigkeit, klinische Relevanz und patientenverständliche Darstellung. Ihr Fokus liegt auf einer praxisnahen Vermittlung komplexer Themen der Erwachsenenmedizin und psychischen Gesundheit.

Häufig gestellte Fragen (FAQ)

  • ADHS zeigt sich im Alltag durch typische Muster wie Unaufmerksamkeit, Vergesslichkeit, emotionale Reizbarkeit und Schwierigkeiten mit Organisation und Zeitmanagement. Viele Betroffene erleben extreme Phasen zwischen Chaos und Hyperfokus – also zwischen völliger Überforderung und intensiver Konzentration auf einzelne Aufgaben. Im Berufs- oder Familienalltag kann das zu Konflikten, Überforderung und Erschöpfung führen. Besonders auffällig sind auch Stimmungsschwankungen und das Gefühl, „ständig hinterherzuhinken“.

Quellenverzeichnis

  1. French, B., et al. (2024). The impacts associated with having ADHD: an umbrella review. Frontiers in Psychiatry. https://www.frontiersin.org/journals/fpsyt/articles/10.3389/fpsyt.2024.1343314/full
  2. Atique, J., et al. (2025). Factors supporting everyday functioning in adults with ADHD. PMC (via NCBI). https://pmc.ncbi.nlm.nih.gov/articles/PMC12020315/
  3. Schneider, L., et al. (2023). Selfcare strategies shown to be useful in daily life for adults with ADHD: a systematic review. Journal (via tandfonline). https://www.tandfonline.com/doi/full/10.1080/01612840.2023.2234477
  4. Functional Impairment and Quality of Life in Newly Diagnosed Adults with ADHD. (2024). PMC. https://pmc.ncbi.nlm.nih.gov/articles/PMC11457577/
  5. Scholz, M., et al. (2014). Impairments, diagnosis and treatments associated with Attention-Deficit/Hyperactivity Disorder: A review. Journal of Clinical Psychology (via ScienceDirect). https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S0883941714001630
  6. Weyandt, L. L., & DuPaul, G. J. (2025). Associations between ADHD symptoms and occupational, daily life, and relationship impairment. Journal of Attention Disorders. (via SAGE) https://journals.sagepub.com/doi/abs/10.1177/1087054716685839 (Weyandt & DuPaul, 2025)

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