Wie fühlt sich ein ganz normaler Tag mit ADHS an? Für viele Betroffene gleicht er einem ständigen Balanceakt, zwischen dem Wunsch nach Kontrolle und den impulsiven, oft unvorhersehbaren Reaktionen des eigenen Gehirns. Der Tag beginnt häufig mit einem Gefühl der Überforderung, das sich wie ein roter Faden durch alle Lebensbereiche zieht. Entscheidungen fallen schwer, Ablenkungen sind allgegenwärtig, und selbst kleinste Aufgaben können plötzlich zu unüberwindbaren Hürden werden. Es ist, als würde man versuchen, bei starkem Wind auf einem Seil zu balancieren, mit wechselnden Rhythmen und ohne Netz (French et al., 2024).
Typische Begleiterscheinungen wie Reizüberflutung, Gedankensprünge, spontane Aktivitätsimpulse und plötzlicher Energieabfall machen den Alltag zu einer ständigen Herausforderung. Gleichzeitig gibt es aber auch Momente intensiver Konzentration, Kreativität und Begeisterung. Struktur ist zwar hilfreich, aber keine einmalige Lösung, sie muss täglich neu aufgebaut, angepasst und oft auch kreativ improvisiert werden (French et al., 2024).
Im Folgenden geben wir dir fünf konkrete Momentaufnahmen, die zeigen, wie unterschiedlich, komplex und gleichzeitig herausfordernd ein Alltag mit ADHS sein kann, von den ersten Minuten am Morgen bis zur Reflexion am Abend (French et al., 2024).
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Der Morgen: Viel los im Kopf, wenig Handlung
- Der Wecker klingelt, aber das Aufstehen dauert ewig. Der erste Impuls ist häufig, die Decke über den Kopf zu ziehen.
- Schon beim Zähneputzen geht der Kopf auf Hochbetrieb: Aufgaben, Termine, lose Gedankenstränge schwirren durcheinander.
- Frühstück? Wird oft ausgelassen oder zwischendurch im Stehen eingenommen, wenn überhaupt.
- Der Griff zum Handy führt schnell zu einem Zeitverlust durch Scrollen, Nachrichtenlesen oder unerwartete Ablenkungen.
- Die Zeit rennt, der Start in den Tag fühlt sich oft wie ein Wettlauf gegen sich selbst an.
Typisches Problem:
- Übergänge zwischen einzelnen Handlungen sind besonders schwerfällig: Vom Bett ins Bad, vom Bad zum Frühstückstisch, vom Tisch an den Schreibtisch.
- Die Reizverarbeitung ist direkt am Morgen überaktiv, schon kleine Impulse (Licht, Geräusche, Nachrichten) können das Nervensystem überfordern.
- Oft entsteht früh das Gefühl, „nicht hinterherzukommen“, was den weiteren Tagesverlauf belastet.
Was helfen kann:
- Eine strukturierte Morgenroutine mit klaren Zeitrahmen, am besten schriftlich festgehalten (French et al., 2024).
- Erinnerungsfunktionen wie ein Wecker mit kurzen Aufgabenhinweisen (zum Beispiel: «Zähneputzen jetzt», «Frühstück machen») unterstützen den Ablauf (French et al., 2024).
- Kleidung, Tasche und Frühstück am Vorabend vorbereiten, um Entscheidungslast am Morgen zu reduzieren (French et al., 2024).
- Eine reizarme Umgebung schaffen: kein Handy in den ersten 30 Minuten, gedämpftes Licht, ruhige Musik oder Stille (French et al., 2024).
- Kleine Bewegungseinheit direkt nach dem Aufstehen (z. B. Dehnen oder ein kurzer Spaziergang), um das Gehirn in den Aktivitätsmodus zu bringen (French et al., 2024).
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Arbeit oder Studium: Reizüberflutung & Hyperfokus
- Schon auf dem Weg zur Arbeit kann eine Reizüberflutung beginnen, etwa durch Geräusche, Verkehrslärm, viele Menschen oder wechselnde Eindrücke auf dem Smartphone.
- Am Arbeitsplatz fällt der Einstieg oft schwer: Der Kopf ist voll, die To-do-Liste lang, doch der Zugang zu einer Aufgabe bleibt vage.
- Plötzlich zündet ein Thema Interesse, und es kommt zum Hyperfokus. Man arbeitet stundenlang intensiv an einer Sache, oft mit beeindruckender Konzentration.
- Dabei geraten Grundbedürfnisse wie Essen, Trinken oder Toilettengänge in den Hintergrund.
- Nach dieser Phase folgt häufig ein «Reizkater»: Der Körper ist erschöpft, das Gehirn überfordert. Man zieht sich zurück, fühlt sich leer oder sogar reizbar.
Typisches Problem:
- Die Konzentration ist entweder kaum erreichbar, oder übersteuert sich so sehr, dass alles andere ausgeblendet wird (Atique et al., 2025).
- Pausen werden selten wahrgenommen oder bewusst ignoriert (Atique et al., 2025).
- Der Wechsel zwischen Aufgaben oder der Fokus auf Prioritäten fällt schwer (Atique et al., 2025).
Was helfen kann:
- Aufgaben vorab in kleine, realistische Schritte gliedern und priorisieren (am besten schriftlich).
- Bewusst Pausen einplanen, z. B. mit einem Wecker oder Kalender-Reminder.
- Regelmässige Check-ins mit sich selbst: «Wie geht es mir gerade? Habe ich gegessen?»
- Eine möglichst reizarme Umgebung schaffen: Lärmreduzierende Kopfhörer, aufgeräumter Schreibtisch, geregelte Arbeitszeiten.
- Übergänge aktiv gestalten, z. B. durch kurze Bewegung, Frischluft oder bewusste Achtsamkeitsmomente
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Nachmittag: Chaos zwischen To-dos und Erschöpfung
- Noch offene Aufgaben drängen, aber die Energie sinkt.
- Termine werden vergessen oder zu spät wahrgenommen.
- Der Haushalt bleibt liegen, oder wird mit plötzlicher Energie übererfüllt.
- Konflikte mit Mitbewohnern, Familie oder Partnern wegen impulsivem Verhalten.
Typisches Problem:
- Zeitgefühl schwindet, Übergänge bleiben schwer (Schneider et al., 2023).
- Selbstfürsorge wird oft ausgelassen (Schneider et al., 2023).
Was helfen kann:
- Feste Tagesstruktur mit klaren Zeitfenstern für To-dos.
- Strukturierte Checklisten.
- Reizreduktion durch Pausen oder Bewegung an der frischen Luft.
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Abend: Abschalten fällt schwer
- Der Körper ist erschöpft, der Kopf bleibt aktiv.
- Gedanken springen, Rückblicke auf den Tag erzeugen Schuldgefühle.
- Einschlafprobleme durch Grübeln und innere Unruhe.
- Der Griff zum Handy verlängert die Wachphase, obwohl man eigentlich müde ist.
Typisches Problem:
- Der innere «Abschaltknopf» funktioniert nicht (Functional Impairment & QoL, 2024).
- Schlafdruck wird durch Bildschirmzeit verdrängt (Functional Impairment & QoL, 2024).
Was helfen kann:
- Feste Abendroutine, z. B. Licht dimmen, ruhige Tätigkeiten.
- Kein Bildschirm in der letzten Stunde vor dem Schlafen.
- Einschlafrituale (z. B. Hörbuch, Atemübung, Journaling).
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Selbstbild & Rückblick: Zwischen Frust und Hoffnung
- Viele ADHS-Betroffene reflektieren am Abend kritisch:
- «Wieder nicht alles geschafft.»
- «Warum bin ich so chaotisch?»
- «Warum ist jeder Tag so anstrengend?»
- Doch es gibt auch die andere Seite:
- «Ich habe heute zwei wichtige Aufgaben erledigt.»
- «Ich habe mich selbst nicht verurteilt.»
- «Ich habe rechtzeitig eine Pause gemacht.»
Was helfen kann:
- Ein positives Abendjournal: Was lief gut?
- Kleine Erfolge sichtbar machen.
- Mitfühlender Umgang mit sich selbst statt ständiger Selbstkritik.
Fazit:
Ein Tag mit ADHS ist nicht linear, er ist eine Abfolge von intensiven Reizen, Höhen und Tiefen. Mit einer individuellen Struktur, realistischen Erwartungen und der Bereitschaft zur Selbstfürsorge kann der Alltag aber deutlich entlastet werden. Wichtig ist: Jeder Tag ist eine neue Chance, etwas anders zu machen, und sich selbst dabei nicht aus den Augen zu verlieren (Scholz et al., 2014).