Essstörungen & ADHS: Eine oft übersehene Verbindung

Veröffentlicht am: 01. Oktober 2025
Zuletzt ärztlich geprüft am: 07. Oktober 2025

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Porträt von Dr. med. Jens Westphal, Praktischer Arzt FMH und medizinischer Reviewer bei klaro-adhs.ch. Er begleitet Patientinnen und Patienten in der Schweiz bei der Abklärung und Behandlung von ADHS. Das Bild zeigt ihn vor einem klaro-Hintergrund als Teil des ärztlichen Teams für ADHS Schweiz.

Dr. med. Jens Westphal

ADHS-Spezialist und Praktischer Arzt (FMH)
Dr. med. Jens Westphal ist Praktischer Arzt (FMH) mit langjähriger Erfahrung in der hausärztlichen Versorgung und Psychiatrie. Er ist medizinischer Reviewer bei klaro-adhs.ch und prüft alle Inhalte rund um ADHS, Diagnostik und Therapie auf wissenschaftliche Genauigkeit und praktische Umsetzbarkeit in der Schweizer Grundversorgung.

Inhaltsverzeichnis

ADHS und Essstörungen erscheinen auf den ersten Blick wie zwei getrennte Krankheitsbilder, doch sie überschneiden sich häufiger, als man denkt. Studien zeigen: Menschen mit ADHS haben ein deutlich erhöhtes Risiko, eine Essstörung zu entwickeln. Besonders häufig treten Binge-Eating-Störung, Bulimie oder auch selektive Essstörung auf. Letztere beschreibt ein stark eingeschränktes Essverhalten, bei dem bestimmte Lebensmittel oder Konsistenzen konsequent gemieden werden, ein Muster, das vor allem bei Kindern mit ADHS beobachtet wird (Nazar et al., 2016).

Der zentrale Zusammenhang liegt in der gestörten Emotionsregulation, die bei ADHS häufig auftritt. Viele Betroffene empfinden intensive innere Spannungen, Reizüberflutung oder ein Gefühl der Leere, und nutzen Essen als Strategie zur kurzfristigen Beruhigung. Nicht der Hunger steht im Vordergrund, sondern der Versuch, emotionalen Druck abzubauen. Gleichzeitig fällt es vielen schwer, Impulse zu kontrollieren, was sich in wiederholten Essanfällen oder unkontrolliertem Snacking äussern kann (Nazar et al., 2016).

Auch neurobiologische Faktoren spielen eine Rolle: ADHS ist mit einem dauerhaft niedrigen Dopaminspiegel verbunden, einem Botenstoff, der für Motivation, Belohnung und Antrieb zentral ist. Der Verzehr von süssen oder kohlenhydratreichen Lebensmitteln stimuliert das Belohnungssystem im Gehirn und kann kurzfristig positive Gefühle erzeugen. Diese Wirkung kann zu einem regelrechten „Craving“ führen, also dem starken inneren Verlangen, über Essen ein emotionales Gleichgewicht herzustellen (Nazar et al., 2016).

Hinzu kommen oft weitere Faktoren: Die Fähigkeit, eigene Körpersignale wie Hunger oder Sättigung richtig wahrzunehmen, ist bei ADHS häufig eingeschränkt. Auch Perfektionismus, ein hohes Kontrollbedürfnis oder niedriges Selbstwertgefühl wirken mit, besonders bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen (Nazar et al., 2016).

Typische Merkmale, die Essstörungen bei ADHS begünstigen:Eine junge Frau sitzt auf einem Sofa und isst gedankenverloren einen Donut. Um sie herum liegen mehrere weitere Donuts verteilt. Der Bezug zu ADHS Schweiz zeigt sich in der Impulskontrolle, die bei Essverhalten eine Rolle spielen kann.

  • Impulsivität und Schwierigkeiten, „Nein“ zu sagen oder frühzeitig zu stoppen
  • Innere Anspannung, Leere oder Überforderung durch zu viele Reize
  • Unsicherheit im Umgang mit Hunger- und Sättigungsgefühlen
  • Hoher Leistungsdruck, perfektionistische Tendenzen, Selbstwertprobleme
  • Essen oder Hungern als Versuch, Emotionen zu regulieren oder Kontrolle auszuüben

Besonders tückisch: Diese Muster entwickeln sich oft schleichend. Was als Trostessen beginnt, kann sich mit der Zeit zu einer handfesten Essstörung entwickeln, gerade wenn die ADHS nicht erkannt oder behandelt wird. Umso wichtiger ist es, diese Verbindung im Blick zu haben, auch in der Therapie (Kaisari et al., 2017).

Die verschiedenen Essstörungsformen bei ADHS

  1. Binge-Eating-Störung
    Viele ADHS-Betroffene kennen das: In kurzer Zeit wird eine grosse Menge an Nahrung verschlungen, oft im Geheimen, häufig begleitet von Scham oder Schuldgefühlen. Diese Episoden entstehen nicht aus Hunger, sondern dienen der emotionalen Kompensation. Die typischen Merkmale von ADHS, etwa Impulsivität, Schwierigkeiten in der Emotionsregulation und ein dauerhaft niedriger Dopaminspiegel, können Essanfälle wahrscheinlicher machen. Die kurzfristige Belohnung durch Essen wirkt dabei wie eine Selbstmedikation: Der Stress lässt kurzzeitig nach, die Reizüberflutung wird gedämpft. Langfristig verstärken sich jedoch Selbstzweifel und ein negatives Körperbild (Kaisari et al., 2017).
    → Therapieansatz: Eine Kombination aus kognitiver Verhaltenstherapie, gezielter Ernährungsberatung und, falls sinnvoll, medikamentöser Unterstützung bei der ADHS kann helfen, den Kreislauf zu durchbrechen.
  2. Bulimia nervosa
    Bei der Bulimie wechseln sich Heisshungeranfälle mit kompensatorischem Verhalten ab, etwa Erbrechen, übermässiges Fasten oder exzessiver Sport. Bei ADHS-Betroffenen können emotionale Instabilität, Impulskontrollstörungen und ein starkes Bedürfnis nach Erleichterung solche Muster verstärken. Betroffene schildern oft das Gefühl, von innerem Druck überrollt zu werden, und durch das «Purging» wieder Ruhe und Kontrolle zu gewinnen. Doch dieser Kreislauf wiederholt sich zwanghaft, oft mehrmals pro Woche (Nigg et al., 2012).
    → Besonderheit: Die gleichzeitige Behandlung von ADHS und Bulimie erfordert eine enge Abstimmung zwischen Psychotherapie, Ernährungscoaching und medikamentöser Unterstützung. Mit einem individuell angepassten Behandlungsplan sind die Prognosen aber günstig.
    Eine Frau liegt auf dem Boden, umgeben von Chips und mit einem Massband um den Körper. Der Kontrast zwischen Snacks und Messband verdeutlicht den inneren Konflikt zwischen Heisshunger und dem Wunsch nach Kontrolle. Essverhalten im Zusammenhang mit ADHS Schweiz ist häufig ein Ausdruck emotionaler Überforderung.
  3. Anorexia nervosa
    Die Anorexie ist zwar weniger stark mit ADHS assoziiert als andere Essstörungen, dennoch zeigen sich in der klinischen Praxis Überschneidungen. Besonders bei Betroffenen mit sogenanntem «strukturiertem ADHS», also einer ausgeprägt perfektionistischen, leistungsorientierten und hochkontrollierten Persönlichkeit, kann Hungern als Mittel eingesetzt werden, um innere Anspannung zu reduzieren. Der starke Wunsch nach Kontrolle über Körper und Essen steht dabei im Vordergrund. Auch eine gestörte Körperwahrnehmung und das Bedürfnis nach Rückzug spielen eine Rolle (Nigg et al., 2012).
    → Therapeutisch wichtig: Auch wenn ADHS nicht offensichtlich erscheint, sollte bei restriktivem Essverhalten und Perfektionismus ein ADHS-Screening in Betracht gezogen werden, gerade bei Frauen.
  4. Selektive Essstörung
    Diese weniger bekannte Form betrifft vor allem Kinder mit ADHS. Sie lehnen bestimmte Lebensmittel aufgrund von Geschmack, Konsistenz oder Farbe kategorisch ab, was über die Zeit zu einer extrem eingeschränkten Nahrungsvielfalt führt. Oft steckt dahinter eine sensorische Überempfindlichkeit oder der Wunsch nach Vorhersehbarkeit und Kontrolle im Alltag. Das Essverhalten wirkt ritualisiert, Abweichungen werden kaum toleriert (Nigg et al., 2012).
    → Behandlungsziel: Durch gezielte Reizkonfrontation, spielerisches Heranführen an neue Lebensmittel und vertrauensvolle therapeutische Begleitung lässt sich das Spektrum behutsam erweitern.

Was hilft bei ADHS und Essstörung?

  1. Kombinationstherapie ist entscheidend
    Weder eine ausschliessliche ADHS-Behandlung noch eine klassische Therapie gegen Essstörungen reicht meist aus, um die komplexe Dynamik zu durchbrechen. Besonders wirksam sind multimodale Therapieansätze, die mehrere Ebenen gleichzeitig ansprechen:
  • Verhaltenstherapie, die gezielt Impulskontrolle, Emotionsregulation und Selbstwahrnehmung trainiert
  • Ernährungsberatung mit Fokus auf achtsames Essen, individuelle Trigger und regelmässige Mahlzeiten
  • ADHS-spezifische Therapie, z. B. mit Stimulanzien, ergänzt durch Psychoedukation und engmaschige Beobachtung des Essverhaltens

Diese Kombination hilft, Symptome nicht isoliert zu betrachten, sondern im Gesamtbild zu verstehen und zu behandeln. Je nach Ausprägung kann auch eine stationäre Therapiephase sinnvoll sein, vor allem bei schwerer Symptomatik oder instabiler psychosozialer Lage (Sonuga-Barke et al., 2013).

  1. Strukturen schaffen
    Menschen mit ADHS und Essstörungen profitieren stark von klaren Tagesstrukturen. Feste Essenszeiten, regelmässige Mahlzeiten und eine gute Planbarkeit des Tagesablaufs geben Halt, gerade in Momenten, in denen Impulse oder Emotionen drohen, die Kontrolle zu übernehmen. Auch Hilfsmittel wie digitale Erinnerungen, visuelle Tagespläne oder Wochenkalender können dabei helfen, Routinen zu etablieren und unregelmässiges Essverhalten zu vermeiden (Sonuga-Barke et al., 2013).

Ein weiterer Faktor: Genügend Pausen und ein bewusster Umgang mit Reizen. Denn Überforderung im Alltag kann Essanfälle oder Essvermeidung triggern. Wer sich realistische Ziele setzt und den Tag nicht überlädt, schafft Raum für Selbstfürsorge und Regulation (Bloch & Qawasmi, 2011).

  1. Psychoedukation & Selbsthilfe
    Wissen ist ein wichtiger Schlüssel zur Veränderung. Psychoedukation vermittelt Zusammenhänge zwischen ADHS, Neurobiologie und Essverhalten, und hilft, eigene Muster besser zu verstehen. Das stärkt die Selbstwirksamkeit und mindert Schamgefühle (Bloch & Qawasmi, 2011).

Ergänzend sind niedrigschwellige Unterstützungsangebote hilfreich, etwa:

  • Online-Foren oder Selbsthilfegruppen (z. B. über InCogito)
  • Peer-Beratungen von Menschen mit ähnlicher Erfahrung
  • Fachinformationen von spezialisierten Stellen oder Therapeuten

Viele Betroffene berichten, dass der Austausch mit anderen ihnen geholfen hat, sich weniger allein zu fühlen, und erste Schritte in Richtung Veränderung zu gehen (EFSA NDA Panel, 2015).

  1. Medikation mit Bedacht einsetzenEine Frau in schwarzem Badeanzug misst mit einem gelben Massband ihren Körperumfang. Der Fokus liegt auf dem Körperbild, das häufig durch innere Unruhe und Selbstzweifel beeinflusst wird. ADHS Schweiz thematisiert auch den Zusammenhang zwischen Körperwahrnehmung und emotionaler Regulation.
    Stimulanzien wie Methylphenidat oder Lisdexamfetamin können die typischen ADHS-Symptome, also Impulsivität, Konzentrationsprobleme und emotionale Instabilität, deutlich lindern. Dadurch kann sich indirekt auch das Essverhalten verbessern, insbesondere bei impulsivem Essen oder Binge-Eating (EFSA NDA Panel, 2015).

Allerdings ist Vorsicht geboten: Einige ADHS-Medikamente haben Appetitzügelnde Effekte, was bei gleichzeitiger Essstörung problematisch sein kann. Deshalb ist eine individuelle Abwägung essenziell, am besten in enger Abstimmung mit Ärzt:innen, Therapeut:innen und ggf. Ernährungsberater:innen. Auch alternative medikamentöse Ansätze (z. B. mit Atomoxetin) können in Erwägung gezogen werden, wenn das Essverhalten stark beeinträchtigt ist (van der Putten et al., 2024).

Kurzum: Medikamente können unterstützen, aber nur, wenn sie eingebettet sind in ein therapeutisches Gesamtkonzept, das auch die Essstörung berücksichtigt.

Fazit: ADHS & Essstörung gemeinsam denken

Die Kombination aus ADHS und Essstörung ist häufiger als bisher angenommen, und wird oft übersehen. Dabei ist die therapeutische Relevanz hoch: Eine unbehandelte ADHS kann Essstörungen begünstigen oder verstärken. Umgekehrt fällt eine Essstörung oft erst auf, wenn das ADHS längst im Hintergrund wirkt.

Wichtig ist: Die Diagnose ist kein Makel, sondern eine Chance. Wer beide Aspekte versteht, kann gezielt gegensteuern und das eigene Verhalten Schritt für Schritt ändern.

Rezensentenblock

Porträt von Dr. Almedina Berisha, Ärztin im Team von klaro-adhs.ch. Sie unterstützt Patientinnen und Patienten bei der Diagnostik und Therapie von ADHS in der Schweiz. Das Bild zeigt sie im weissen Arztkittel mit Stethoskop vor einem klaro-Hintergrund.

Almedina Berisha

Ärztin Innere Medizin
Almedina Berisha ist Ärztin für Innere Medizin in der Schweiz mit besonderem Interesse an psychosomatischen Zusammenhängen und neurobiologischen Faktoren von ADHS. Sie prüft medizinische Inhalte auf klaro-adhs.ch auf wissenschaftliche Genauigkeit, klinische Relevanz und patientenverständliche Darstellung. Ihr Fokus liegt auf einer praxisnahen Vermittlung komplexer Themen der Erwachsenenmedizin und psychischen Gesundheit.

Häufig gestellte Fragen (FAQ)

  • Menschen mit ADHS reagieren empfindlicher auf starke Blutzuckerschwankungen und bestimmte Nahrungszusatzstoffe. Besonders raffinierter Zucker, stark verarbeitete Lebensmittel, Farbstoffe (z. B. Tartrazin) und künstliche Süssstoffe können Unruhe und Konzentrationsprobleme verstärken. Auch übermässiger Koffein- oder Energy-Drink-Konsum beeinträchtigt den Schlaf und die Reizregulation. In der Schweiz empfehlen Fachpersonen eine ausgewogene, proteinreiche Ernährung mit komplexen Kohlenhydraten, frischem Gemüse und ausreichend Omega-3-Fettsäuren – sie stabilisiert den Dopaminspiegel und unterstützt die Konzentrationsfähigkeit.

Quellenverzeichnis

  1. Nazar, B. P., Bernardes, C., Peachey, G., Sergeant, J., Mattos, P., & Treasure, J. (2016). The risk of eating disorders comorbid with attention-deficit/hyperactivity disorder: A systematic review and meta-analysis. International Journal of Eating Disorders, 49(12), 1045–1057. https://doi.org/10.1002/eat.22643
  2. Kaisari, P., Dourish, C. T., & Higgs, S. (2017). Attention Deficit Hyperactivity Disorder (ADHD) and disordered eating behaviour: A systematic review and a framework for future research. Clinical Psychology Review, 53, 109–121. https://doi.org/10.1016/j.cpr.2017.03.002
  3. Nigg, J. T., Lewis, K., Edinger, T., & Falk, M. (2012). Meta-analysis of attention-deficit/hyperactivity disorder or ADHD symptoms, restriction diet, and synthetic food color additives. Journal of the American Academy of Child & Adolescent Psychiatry, 51(1), 86–97.e8. https://doi.org/10.1016/j.jaac.2011.10.015
  4. Sonuga-Barke, E. J. S., Brandeis, D., Cortese, S., Daley, D., Ferrin, M., Holtmann, M., … European ADHD Guidelines Group. (2013). Nonpharmacological interventions for ADHD: Systematic review and meta-analyses of randomized controlled trials of dietary and psychological treatments. American Journal of Psychiatry, 170(3), 275–289. https://doi.org/10.1176/appi.ajp.2012.12070991
  5. Bloch, M. H., & Qawasmi, A. (2011). Omega-3 fatty acid supplementation for the treatment of children with attention-deficit/hyperactivity disorder symptomatology: Systematic review and meta-analysis. Journal of the American Academy of Child & Adolescent Psychiatry, 50(10), 991–1000. https://doi.org/10.1016/j.jaac.2011.06.008
  6. EFSA Panel on Dietetic Products, Nutrition and Allergies (NDA). (2015). Scientific opinion on the safety of caffeine. EFSA Journal, 13(5), 4102. https://doi.org/10.2903/j.efsa.2015.4102
  7. van der Putten, W. J., Mol, A. J. J., Groenman, A. P., Radhoe, T. A., Torenvliet, C., Agelink van Rentergem, J. A., & Geurts, H. M. (2024). Is camouflaging unique for autism? A comparison of camouflaging between adults with autism and ADHD. Autism Research, 17(4), 812–823. https://doi.org/10.1002/aur.3099

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