Menschen mit ADHS sind deutlich anfälliger für Suchtprobleme als andere, Studien zeigen, dass das Risiko für eine Abhängigkeit etwa zwei- bis viermal höher ist. Dabei spielt es kaum eine Rolle, ob es sich um stoffgebundene Süchte wie Alkohol, Nikotin, Medikamente oder illegale Drogen handelt, oder um nicht-stoffliche Süchte wie Internetsucht, Handysucht, Essstörungen oder Glücksspiel. Auch in der Schweiz beobachten Fachpersonen zunehmend ADHS-assoziierte Suchterkrankungen, insbesondere bei Erwachsenen, bei denen die Diagnose lange unentdeckt blieb (Lee et al., 2011).
Die Ursachen liegen in einem komplexen Zusammenspiel biologischer, psychischer und sozialer Faktoren. Neurologisch bedingt verfügen viele ADHS-Betroffene über ein unterdurchschnittlich aktives Belohnungssystem im Gehirn. Das führt zu einem chronischen Mangel an Dopamin, einem zentralen Neurotransmitter für Motivation, Antrieb und Wohlbefinden. Viele Suchtmittel, etwa Nikotin oder Kokain, wirken genau auf dieses System und erzeugen kurzfristig das, was dem Gehirn sonst fehlt: Fokus, Ruhe oder ein Gefühl von „Normalität“ (Lee et al., 2011).
Darüber hinaus ist die emotionale Regulation bei ADHS oft beeinträchtigt. Stimmungsschwankungen, Reizbarkeit oder Frustration werden schwerer ausgehalten, weshalb Betroffene besonders anfällig sind für sogenannte Selbstmedikation. Dabei geht es nicht nur um Substanzen, auch Verhaltenssüchte wie exzessives Gaming oder ständiges Social-Media-Scrolling dienen häufig dazu, unangenehme Emotionen zu vermeiden oder sich kurzfristig besser zu fühlen (Lee et al., 2011).
Typische Merkmale, die eine Sucht bei ADHS begünstigen:
- Erhöhte Reizempfänglichkeit & Intoleranz gegenüber Langeweile
- Impulsives Verhalten, geringe Frustrationstoleranz
- Schwierigkeiten mit Selbstregulation und Belohnungsaufschub
- Chronisches Gefühl von „zu kurz gekommen sein“ oder innerer Leere
- Häufige Lebenskrisen, Scheiternserfahrungen oder soziale Ausgrenzung
Viele ADHS-Betroffene erleben einen Alltag, der geprägt ist von Misserfolgen, Ablehnung oder Überforderung, sei es in Schule, Beruf oder Beziehung. In dieser chronischen Belastungssituation können Substanzen oder exzessive Verhaltensmuster eine scheinbare Entlastung bieten. Das Tragische dabei: Was kurzfristig beruhigt oder stimuliert, verstärkt langfristig das Problem. Aus dem Versuch, sich selbst zu helfen, entsteht ein Teufelskreis, der schwer zu durchbrechen ist, insbesondere dann, wenn die zugrunde liegende ADHS nicht erkannt oder behandelt wird (Groenman et al., 2017).
Häufige Suchtformen bei ADHS
- Nikotin & Koffein
Diese beiden legalen Substanzen gelten als häufigste Einstiegsdrogen bei ADHS. Nikotin wirkt kurzzeitig beruhigend und fokussierend, weshalb viele Betroffene früh beginnen zu rauchen. Auch übermässiger Kaffeekonsum oder der Griff zu Energy-Drinks am Abend ist typisch. Die schnelle Verfügbarkeit und gesellschaftliche Akzeptanz verstärken das Risiko, dass sich unbemerkt eine Gewohnheit mit Abhängigkeitscharakter entwickelt (Groenman et al., 2017).
→ Problematisch wird es, wenn der Konsum zur Dauerschleife wird und Schlafprobleme sowie körperliche Abhängigkeit folgen. - Alkohol & Cannabis
Alkohol hilft scheinbar beim „Abschalten“, Cannabis bringt kurzfristige Entspannung. Gerade in sozialen Situationen oder bei innerer Unruhe greifen viele ADHS-Betroffene reflexartig zu diesen Substanzen. Studien zeigen, dass der Cannabiskonsum bei ADHS überdurchschnittlich hoch ist. Dabei ist es wichtig zu differenzieren: Cannabis kann, unter kontrollierter medizinischer Anwendung, auch therapeutisches Potenzial bei ADHS entfalten, etwa durch die Förderung von innerer Ruhe oder besseren Schlaf. Entscheidend ist hier die ärztliche Begleitung und ein klarer therapeutischer Rahmen. Ohne diesen besteht die Gefahr, dass aus gelegentlichem Konsum ein unkontrolliertes Verhalten entsteht (Chang et al., 2014).
→ Das Risiko: Antriebslosigkeit, Stimmungsschwankungen, soziale Isolation, und bei starkem oder dauerhaftem Konsum eine mögliche Verschärfung psychischer Symptome.
- Medikamente mit Suchtpotenzial
Ein sensibles Thema ist der Umgang mit ADHS-Medikamenten wie Methylphenidat. Bei richtiger Anwendung und ärztlicher Überwachung gelten diese Mittel als sicher und hochwirksam. Doch gerade bei nicht diagnostizierten Betroffenen oder bei Selbstmedikation kann eine riskante Nutzung entstehen, etwa durch Überdosierung oder Weitergabe. Auch Medikamente zur Beruhigung, wie Benzodiazepine, bergen ein erhebliches Abhängigkeitspotenzial, vor allem wenn sie ohne langfristigen Plan eingesetzt werden (Chang et al., 2014).
→ Wichtig: Medikamente nur nach ärztlicher Verordnung und nicht zur Kompensation emotionaler Krisen einsetzen. - Digitale Süchte (z. B. Handysucht, Onlinespiele, Social Media)
Viele ADHS-Betroffene zeigen eine ausgeprägte Affinität zu Bildschirmmedien, insbesondere bei Reizüberflutung, sozialer Unsicherheit oder mangelnder Struktur im Alltag. Die digitalen Inhalte bieten schnelle Belohnungen, Ablenkung und scheinbare Kontrolle. Durch Hyperfokussierung und impulsives Klickverhalten kann eine Suchtspirale entstehen, die nicht nur Zeit raubt, sondern auch Schlaf und soziale Beziehungen belastet (Schoenfelder et al., 2014).
→ Achte auf Zeitlimits, bewusste Offline-Zeiten und digitale Detox-Phasen. - Esssucht, Kaufsucht & Verhaltenssüchte
Emotionales Essen, ständiger Shoppingdrang oder exzessives Sporttreiben, ADHS kann auch in solchen Mustern zur Sucht führen. Der Impuls, sich kurzfristig zu belohnen oder innere Leere zu kompensieren, ist bei vielen stark ausgeprägt. Oft bleibt der eigentliche Auslöser, z. B. Überforderung oder Frustration, unbemerkt, während das Verhalten ritualisiert wird (Willcutt et al., 2005).
→ Hier helfen Achtsamkeit, Selbstbeobachtung und ggf. therapeutische Begleitung.
Was tun bei ADHS und Suchtgefahr?
Früherkennung ist entscheidend. Wenn du merkst, dass du bestimmte Substanzen oder Verhaltensweisen nicht mehr im Griff hast, lohnt sich der offene Blick, ohne Schuld oder Scham. Suchtverhalten beginnt oft schleichend und zeigt sich nicht immer sofort. Daher ist es wichtig, auch kleine Warnzeichen ernst zu nehmen, etwa wenn Konsum zur Gewohnheit wird oder das Gefühl entsteht, ohne bestimmte Mittel nicht mehr durch den Alltag zu kommen (Willcutt et al., 2005).
Hilfreiche Strategien können sein:
- Psychotherapie: Etwa eine Verhaltenstherapie oder eine integrative Suchttherapie mit speziellem Fokus auf ADHS. Ziel ist es, sowohl die Ursachen als auch die individuellen Auslöser von Suchtverhalten zu verstehen und zu verändern. Therapeutische Unterstützung hilft auch dabei, gesündere Bewältigungsstrategien zu entwickeln (Shaw et al., 2014).
- Selbsthilfegruppen: Der Austausch mit anderen Betroffenen, z. B. über Plattformen wie adhs-forum oder in Gruppenangeboten lokaler Suchtberatungsstellen, kann entlastend wirken und das Gefühl von Isolation mindern. Gemeinsame Erfahrungen geben Mut und Inspiration (Shaw et al., 2014).
- ADHS behandeln lassen: Studien zeigen: Wenn die ADHS-Symptome gut eingestellt sind, etwa durch passende Medikamente, Coaching oder Psychotherapie, verringert sich das Risiko für Suchtverhalten deutlich. Die innere Anspannung nimmt ab, und die Gefahr, aus Frust oder Reizüberflutung heraus zu konsumieren, sinkt (Shaw et al., 2014).
- Tagesstruktur & Belohnungsplanung: Ein geregelter Alltag hilft, impulsives Verhalten zu reduzieren. Feste Tagespläne, bewusste Pausen, realistische Ziele und positive Verstärker schaffen Orientierung. Kleine Belohnungen für erreichte Schritte geben ein Gefühl von Kontrolle und Zufriedenheit, ganz ohne Substanzen (Shaw et al., 2014).
- Achtsamkeit & Entspannung: Techniken wie Meditation, Atemübungen, progressive Muskelentspannung oder auch kreatives Schreiben (z. B. Journaling) können helfen, innere Unruhe zu reduzieren. Besonders bei ADHS sind achtsame Routinen hilfreich, um emotionale Reaktionen besser zu regulieren und Suchtdruck frühzeitig wahrzunehmen (Wang et al., 2017).
- Digitale Achtsamkeit: Wenn digitale Medien eine Rolle spielen, kann ein bewusster Umgang helfen. Tools wie Bildschirmzeit-Tracker oder Apps zur Fokus-Steigerung unterstützen dabei, die eigene Mediennutzung im Blick zu behalten (Wang et al., 2017).
Ganz wichtig: Wenn du Medikamente einnimmst, sei es zur Behandlung von ADHS oder zur kurzfristigen Beruhigung, sprich offen mit deinem Arzt oder deiner Ärztin über mögliche Risiken, Ängste oder den Verdacht auf eine problematische Nutzung. Eine transparente, ärztlich begleitete Therapie ist der Schlüssel zur langfristigen Stabilisierung. Medikamentöse Hilfe ist wertvoll – aber sie entfaltet ihr Potenzial nur im Rahmen eines umfassenden, individuellen Behandlungsplans (Wang et al., 2017).
Fazit: ADHS & Sucht: früh erkennen, gezielt handeln
ADHS geht oft mit einem erhöhten Risiko für Suchtverhalten einher, sei es durch Substanzen wie Alkohol, Nikotin oder Cannabis oder durch digitale und emotionale Ersatzstrategien. Wer die Mechanismen versteht und rechtzeitig gegensteuert, kann die eigene Lebensqualität spürbar verbessern.
Wichtig ist: Sucht ist kein Zeichen von Schwäche, sondern oft ein Signal für unerfüllte Bedürfnisse. Professionelle Hilfe kann hier den entscheidenden Unterschied machen.