Menschen mit ADHS sind besonders empfänglich für digitale Reize, und genau hier setzen soziale Medien mit voller Wucht an. Plattformen wie Instagram, TikTok oder YouTube sind so gestaltet, dass sie das Belohnungssystem im Gehirn maximal aktivieren. Für viele ADHS-Betroffene ist das eine gefährliche Kombination: Sie erleben schnelle Dopamin-Kicks, intensive visuelle Stimulation und permanente Verfügbarkeit, alles Zutaten, die eine Reizüberflutung begünstigen und das Gefühl für Zeit, Fokus und Selbstkontrolle aushebeln können (van den Eijnden et al., 2021).
Warum Social Media für ADHS so anziehend ist:
- Sofortige Belohnung: Jedes Herzchen, jeder Kommentar und jede neue Notification setzt einen kleinen Dopamin-Schub frei. Das Belohnungssystem wird immer wieder neu angeregt –
perfekt für ein Gehirn, das ständig nach Stimulation sucht.
- Endloser Feed: Scrollen ohne Ende, kein klarer Abschluss, keine „natürliche“ Pause. Das erschwert es besonders ADHS-Betroffenen, mit dem Konsum aufzuhören.
- Ablenkung auf Knopfdruck: Ob Stress, Langeweile oder emotionale Überforderung, Social Media ist sofort verfügbar und bietet schnelle Flucht aus unangenehmen Gefühlen.
- Hyperfokus-Effekt: Man beginnt mit einem Video, und bleibt stundenlang in einer thematischen Spirale hängen. Besonders Kurzvideos mit algorithmischer Empfehlung fördern diesen Effekt.
- Vergleich und Selbstzweifel: Perfekte Leben, Erfolg, Schönheit, das ständige Vergleichen mit anderen kann bei Menschen mit ADHS das ohnehin oft fragile Selbstwertgefühl weiter schwächen.
Zusätzlicher Risikofaktor: Viele Plattformen arbeiten mit ausgeklügelten Algorithmen, die Inhalte gezielt auf individuelle Reaktionen abstimmen. Was für das Marketing effizient ist, kann bei ADHS dazu führen, dass die Nutzer:innen noch stärker gebunden und getriggert werden, ohne sich dessen bewusst zu sein (van den Eijnden et al., 2021).
Tipp für den Alltag:
- Reflektiere nach jeder Social-Media-Session: Wie fühlst du dich emotional und körperlich?
- Notiere auffällige Trigger oder Reizquellen, die dich besonders fesseln.
- Baue bewusste Pausen in deine Nutzung ein, auch mithilfe von Erinnerungen oder App-Timern.
Ein bewusster Umgang mit Social Media kann helfen, die positiven Aspekte zu nutzen, ohne sich in der digitalen Reizflut zu verlieren.Was Social Media im ADHS-Alltag auslösen kann (Wallace et al., 2023).
Viele Erwachsene mit ADHS berichten von typischen Effekten, wenn sie exzessiv Social Media nutzen:
- Verlust des Zeitgefühls: «Ich wollte nur kurz…» und plötzlich sind 90 Minuten vergangen.
- Konzentrationsprobleme: Der ständige Wechsel zwischen Reizen macht fokussiertes Arbeiten schwieriger.
- Emotionale Achterbahnfahrt: Von Euphorie (Likes) bis Frust (Vergleich mit anderen).
- Aufschieben wichtiger Aufgaben: Social Media wird zum Fluchtverhalten vor unangenehmen To-dos (Wallace et al., 2023).
ADHS-Diagnose via TikTok? Die Chancen und Risiken
Viele Erwachsene stossen erstmals durch soziale Medien auf das Thema ADHS. Plattformen wie TikTok oder Instagram sind voll von Videos, die typische Symptome humorvoll oder emotional darstellen. Für viele wirkt das wie ein Aha-Moment: Endlich gibt es Worte und Erklärungen für Verhaltensweisen, die sie bisher nur als «eigenartig» oder «anstrengend» kannten. Diese erste Wiedererkennung kann ein wichtiger Schritt zur Selbstakzeptanz sein, birgt aber auch Risiken (Muise et al., 2008).
Chancen:
- Niedrigschwelliger Zugang zu Informationen: Videos und Posts machen komplexe Themen verständlich und sichtbar, gerade für Menschen, die bisher wenig Berührung mit psychischer Gesundheit hatten (Muise et al., 2008).
- Entlastung durch Wiedererkennung: «Ich bin nicht allein», das Gefühl, mit den eigenen Schwierigkeiten nicht isoliert zu sein, kann emotional stabilisierend wirken (Muise et al., 2008).
- Anstoss für professionelle Abklärung: Viele lassen sich nach einem ersten Verdacht durch Social Media tatsächlich medizinisch oder psychologisch abklären, ein wichtiger Schritt zur fundierten Diagnose (Muise et al., 2008).
- Förderung der Entstigmatisierung: Wenn Betroffene offen über ADHS sprechen, wird die Störung gesellschaftlich sichtbarer und normalisierter (Muise et al., 2008).
Risiken:
- Fehldiagnosen durch oberflächliche Selbsttests: Nicht jeder Online-Test ist wissenschaftlich fundiert, viele sind eher unterhaltend als diagnostisch valide.
- Pathologisierung normalen Verhaltens: Nicht jede Vergesslichkeit oder Ablenkbarkeit ist gleich ADHS, menschliches Verhalten wird zu schnell als krankhaft bewertet.
- Überidentifikation: Die ständige Beschäftigung mit ADHS-Inhalten kann dazu führen, dass man sich in die Diagnose «hineindenkt», auch wenn die Symptome in Wirklichkeit nicht zutreffen.
- Stigmatisierung durch Klischees: ADHS wird häufig als «Superkraft» oder als modisches Label dargestellt, dabei geraten Leidensdruck und Behandlungsbedürftigkeit schnell in den Hintergrund.
Wichtig: Social Media kann eine wertvolle erste Orientierung bieten, ersetzt aber niemals eine fundierte klinische Diagnostik durch qualifizierte Fachpersonen. Wer sich in Inhalten wiedererkennt, sollte den nächsten Schritt gehen und professionelle Unterstützung suchen (Lissak, 2018).
Tipps: So gehst du gesünder mit Social Media um
Wer ADHS hat, muss nicht komplett auf Social Media verzichten. Aber ein bewusster Umgang ist entscheidend. Diese Strategien helfen dir, die Nutzung besser zu steuern, ohne komplett auf digitale Plattformen zu verzichten (Lissak, 2018).
- Nutzungszeiten bewusst begrenzen
Feste Zeiten und klare Regeln helfen, die Kontrolle zu behalten:
- Nutze App-Timer oder die Bildschirmzeit-Funktion auf deinem Smartphone, um die tägliche Nutzungsdauer zu begrenzen.
- Plane gezielte Zeitfenster für Social Media ein, z. B. 20 Minuten am Abend oder in der Mittagspause.
- Vermeide Dopaminfallen vor dem Schlafen: Lege dein Handy ausser Reichweite oder lade es ausserhalb des Schlafzimmers (Lissak, 2018).
- Aktiviere Ruhezeiten oder den Flugmodus während Fokusphasen oder am Abend.
- Inhalte gezielt auswählen
Der Feed bestimmt deine Stimmung, also kuratiere ihn bewusst:
- Entfolge Accounts, die Stress, Neid oder Selbstzweifel auslösen.
- Nutze die «Stummschalten»-Funktion, um Inhalte vorübergehend auszublenden (Lissak, 2018).
- Folge Kanälen, die dich inspirieren, informieren oder emotional stärken (z. B. Aufklärungsseiten, ADHS-Communities, Humor).
- Reflektiere regelmässig, welche Inhalte dir guttun, und welche nicht.
- Achtsames Scrollen üben
Bewusstes Konsumieren statt impulsivem Scrollen:
- Stell dir vor dem Öffnen der App die Frage: Warum gehe ich gerade online? Was brauche ich gerade, Ablenkung, Austausch, Unterhaltung?
- Setze dir ein Ziel: z. B. eine bestimmte Person kontaktieren oder einen konkreten Post nachsehen.
- Entscheide aktiv, wann du wieder aufhörst zu scrollen, z. B. nach fünf Beiträgen oder zehn Minuten (Lissak, 2018).
- Notiere Gedanken, Trigger oder Emotionen, die beim Scrollen auftauchen, um deinen Konsum besser zu verstehen.
- Alternativen aufbauen
Weniger Social Media funktioniert nur, wenn du attraktive Alternativen hast:
- Suche gezielt nach anderen Dopamin-Quellen im Alltag: Bewegung, Musik, gute Gespräche, Kochen oder kreative Hobbies.
- Plane täglich bewusste Social-Media-freie Zeiten ein, z. B. morgens nach dem Aufstehen oder direkt nach der Arbeit.
- Lerne, Langeweile auszuhalten, ohne sofort zum Handy zu greifen. Auch kurze Momente der Leere sind wichtig für die Regeneration des Gehirns.
- Nutze Apps wie Forest oder Pomodoro-Timer, um Offline-Zeiten aktiv zu fördern und mit Belohnungen zu verknüpfen.
Diese Strategien helfen nicht nur bei ADHS, sondern verbessern auch generell das digitale Wohlbefinden. Fang klein an, mit einer bewussten Entscheidung pro Tag (van den Eijnden et al., 2016).
Fazit: Social Media bewusst nutzen statt kontrolliert werden
ADHS und Social Media, das ist eine intensive Kombination. Einerseits bieten soziale Netzwerke wertvolle Informationen und echte Verbindungen. Andererseits können sie Symptome verstärken und den Alltag sabotieren.
Der Schlüssel liegt im bewussten Umgang: Finde heraus, wie du Social Media für dich nutzen kannst, ohne dich darin zu verlieren. Kleine Veränderungen können schon helfen, mehr Klarheit und Ruhe in deinen digitalen Alltag zu bringen.