Digitale Medien sind aus unserem Alltag nicht mehr wegzudenken, sie prägen Arbeit, Freizeit und Kommunikation. Für Menschen mit ADHS können sie jedoch sowohl eine wertvolle Ressource als auch eine erhebliche Belastung darstellen. Einerseits liefern sie schnelle Reize, unmittelbare Unterhaltung und einfache Erfolgserlebnisse, was das dopaminhungrige ADHS-Gehirn besonders anspricht. Andererseits überfordern sie oft durch ihre Reizdichte und führen zu Symptomen wie Konzentrationsverlust, erhöhter innerer Unruhe oder Impulsivität (Przybylski & Weinstein, 2017).
Gerade wenn Medienkonsum unreflektiert und ohne klare Struktur erfolgt, steigt das Risiko für eine sogenannte digitale Reizüberflutung. Die ständige Verfügbarkeit und das „Immer-weiter-Prinzip“ vieler Plattformen machen es schwer, rechtzeitig abzuschalten. Das kann sich negativ auf den Schlaf, die Stimmung und das allgemeine Wohlbefinden auswirken (Przybylski & Weinstein, 2017).
Typische Anzeichen für problematische Bildschirmzeit bei ADHS sind zum Beispiel:
- Verlust des Zeitgefühls beim Scrollen, Gamen oder Streamen
- Unruhe oder Reizbarkeit, wenn kein Zugriff auf das Gerät möglich ist
- Schwierigkeiten, sich auf andere Aufgaben zu konzentrieren
- Verschlechterung von Schlafqualität oder Einschlafproblemen
- Rückzug aus sozialen Aktivitäten zugunsten digitaler Inhalte
Die gute Nachricht: Digitale Medien müssen nicht verteufelt werden. Mit einer bewussten Nutzung und einfachen Strategien lässt sich ein gesunder Umgang erlernen, individuell angepasst an die Bedürfnisse bei ADHS (Przybylski & Weinstein, 2017).
Warum digitale Medien für ADHS so anziehend sind:
- Schnelle Belohnung: Likes, Nachrichten oder Spiel-Erfolge aktivieren das Dopamin-System sofort.
- Hohe Reizdichte: Ständiger Wechsel von Bildern, Tönen und Inhalten sorgt für dauerhafte Stimulation.
- Flucht vor Überforderung: Medienkonsum wird zur Kompensationsstrategie bei innerer Unruhe oder Langeweile.
- Keine Wartezeit: Instant-Zugriff passt zum ADHS-typischen Wunsch nach sofortiger Belohnung.
Doch wie viel Bildschirmzeit ist zu viel? Eine einheitliche Grenze lässt sich nicht ziehen, aber es gibt klare Warnzeichen:
- Du verlierst das Zeitgefühl beim Scrollen oder Gamen
- Du wirst unruhig oder gereizt, wenn du dein Gerät nicht nutzen darfst
- Konzentration, Schlaf oder Stimmung verschlechtern sich nach längerer Bildschirmzeit
Die gute Nachricht: Mit klaren Strategien kannst du den Medienkonsum bewusst steuern, ohne ganz darauf zu verzichten (Przybylski & Weinstein, 2017).
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Zeitlimits setzen
Bildschirmzeit braucht klare Grenzen, sonst wird sie schnell zum Zeitfresser und verdrängt andere wichtige Aktivitäten. Gerade bei ADHS hilft eine strukturierte Tagesgestaltung dabei, Impulsen nicht ungebremst nachzugeben (Boers et al., 2019). Diese Tipps unterstützen dich dabei, ein gesundes Gleichgewicht zu finden:
- Nutze App-Timer oder Bildschirmzeit-Funktionen auf deinem Smartphone, Tablet oder Computer. Viele Geräte bieten integrierte Tools, mit denen du Zeitlimits für bestimmte Apps oder Kategorien festlegen kannst.
- Plane feste Slots für Mediennutzung ein, zum Beispiel täglich 30 Minuten nach dem Mittagessen oder eine bestimmte Zeit am Nachmittag. Wichtig: Halte diese Zeiten konsequent ein.
- Lege medienfreie Zeiten bewusst fest, etwa morgens nach dem Aufstehen, während der Mahlzeiten oder abends 1–2 Stunden vor dem Schlafengehen. Diese „digitale Ruhezeit“ kann helfen, Reizüberflutung zu vermeiden.
- Verwende visuelle Timer, Sanduhren oder analoge Küchenwecker, um die verstrichene Zeit sichtbar zu machen, besonders hilfreich für Kinder und Erwachsene mit ADHS, die das Zeitgefühl leicht verlieren.
- Binde andere Personen mit ein, etwa Familienmitglieder oder Mitbewohner. So entsteht soziale Verbindlichkeit, und man unterstützt sich gegenseitig beim Einhalten der Vereinbarungen.
- Belohne konsequentes Einhalten der Zeitlimits, zum Beispiel mit einem positiven Ritual, wie einem Spaziergang oder einem kleinen Highlight am Abend.
Tipp: Je klarer und sichtbarer die Regeln, desto leichter fällt die Umsetzung im Alltag, gerade dann, wenn die Impulse stark sind (Boers et al., 2019).
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Reize gezielt steuern
Nicht alles, was der Bildschirm zeigt, tut dir gut, besonders bei ADHS kann die Art der Inhalte einen grossen Unterschied machen. Je nach Format, Tempo und emotionalem Gehalt wirken Medien entweder beruhigend, inspirierend, oder eben überfordernd. Wichtig ist deshalb, deinen Medienkonsum aktiv zu gestalten statt passiv geschehen zu lassen (Montgomery-Downs et al., 2010).
Diese Tipps helfen dir dabei:
- Vermeide besonders schnelle, laute oder hektische Inhalte, wie z. B. stark blinkende Videos, Battle-Games oder extrem kurze, schnell geschnittene Clips. Diese sorgen oft für Dauerstress im Gehirn und machen es schwer, wieder zur Ruhe zu kommen.
- Kuratiere deinen Feed aktiv: Entfolge oder deaktiviere Kanäle, die dich stressen, überfordern oder ständig negative Gefühle hervorrufen. Du entscheidest, was in deinem digitalen Umfeld auftaucht, nutze diese Kontrolle bewusst.
- Bevorzuge Inhalte, die dich wirklich interessieren oder inspirieren, z. B. Lernvideos, beruhigende Musik, ruhige Vlogs, motivierende Podcasts oder positive Communitys. Diese bieten dir echten Mehrwert, ohne deine Aufmerksamkeit zu überreizen.
- Beobachte deine Reaktionen auf verschiedene Inhalte: Wirst du nervös, traurig oder gereizt nach bestimmten Videos oder Accounts? Dann ist es ein guter Moment, deinen Konsum zu überdenken und ggf. anzupassen.
- Nutze Playlists oder Favoriten, um gezielt auf bewährte Inhalte zurückzugreifen, anstatt dich wahllos durch Feeds treiben zu lassen. So reduzierst du unkontrollierte Reizflut und stärkst deine Selbstbestimmung.
Je bewusster du auswählst, desto besser kannst du Einfluss auf deine Konzentration, Stimmung und innere Ruhe nehmen (Montgomery-Downs et al., 2010).
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Medienzeit mit Regeln verknüpfen
Wenn du deine Medienzeit an klare Regeln und Bedingungen knüpfst, wird sie nicht nur bewusster genutzt, sie bekommt auch einen funktionalen Platz im Alltag. Besonders bei ADHS hilft dieser strukturierte Ansatz, Impulsverhalten zu reduzieren und digitale Ablenkung zu minimieren (Przybylski & Ellis, 2022).
Hier ein paar konkrete Ideen, wie du das umsetzen kannst:
- Medienzeit als Belohnung nach dem Erledigen einer Aufgabe: Zum Beispiel nach dem Bearbeiten von E-Mails, nach einer Hausarbeit oder einer Bewegungseinheit. So wird der Medienkonsum an produktive Aktivitäten gekoppelt.
- Einführung eines «Punktesystems»: Für jede erledigte Aufgabe (z. B. Hausaufgabe, Sport, Haushalt) gibt es Medienpunkte. Diese Punkte können dann gegen eine bestimmte Zeit am Bildschirm eingetauscht werden, eine spielerische Art, Medienzeit zu „verdienen“.
- Fester Block im Tagesplan: Plane Medienzeit bewusst ein, etwa als halbstündiger Slot am Nachmittag oder am frühen Abend. So bleibt sie überschaubar und verdrängt keine anderen Aktivitäten.
- Keine Bildschirmzeit als Hintergrundbeschallung: Vermeide es, ständig Medien nebenbei laufen zu lassen (z. B. YouTube oder Social Media beim Essen, Lernen oder Entspannen). Das erschwert es, deine Aufmerksamkeit zu fokussieren und fördert Dauerstress fürs Gehirn.
- Aufgaben-Medien-Rotation: Erstelle eine kleine Liste mit Aufgaben und passenden Medienzeiten, z. B. 20 Minuten Aufräumen → 15 Minuten Medienzeit. Danach wieder Bewegung oder etwas Soziales.
Solche Rituale fördern nicht nur Struktur, sondern helfen dir auch, deine Bildschirmzeit aktiv zu gestalten, statt dich passiv treiben zu lassen (Przybylski & Ellis, 2022).
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Alternativen schaffen
Wenn du dein Handy weglegst, braucht dein Gehirn weiterhin Möglichkeiten, um sich zu fokussieren, Dopamin auszuschütten und in einen positiven Flow-Zustand zu kommen. Statt in einen Leerlauf zu fallen oder gelangweilt zum Bildschirm zurückzukehren, ist es hilfreich, gezielt Alternativen zu schaffen, die befriedigend, aktivierend oder entspannend wirken (Przybylski & Ellis, 2022).
Hier ein paar Ideen, die du ausprobieren kannst:
- Körperlich aktiv werden: Bewegung setzt Dopamin frei, ob ein Spaziergang, Tanzen zu deiner Lieblingsmusik, ein kleines Workout oder einfach Treppensteigen statt Lift.
- Kreativität entfalten: Malen, Musizieren, Schreiben oder Basteln fördern Fokus und Selbstwirksamkeit. Auch einfache DIY-Projekte oder Journaling können helfen.
- Sozialer Austausch: Triff dich mit Freund:innen, ruf jemanden an oder schreibe eine Sprachnachricht, echte Verbindungen geben Energie und ersetzen den digitalen Dopaminkick.
- Mini-Projekte starten: Kleine Vorhaben wie ein neues Rezept kochen, einen Balkon verschönern oder ein Puzzle lösen geben Struktur und machen stolz.
- Medienfreie Oasen schaffen: Richte dir bewusst bildschirmfreie Zeiten und Räume ein, z. B. das Schlafzimmer oder die erste Stunde am Morgen, als Rückzugsort für dein Nervensystem.
Tipp: Schreib dir eine Liste deiner liebsten Alternativen auf und häng sie sichtbar auf. So hast du im entscheidenden Moment eine schnelle Entscheidungshilfe, und kommst gar nicht erst in Versuchung, aus Gewohnheit zum Bildschirm zu greifen (Przybylski & Ellis, 2022).
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Achtsamkeit statt Autopilot
Viele Menschen mit ADHS geraten beim Medienkonsum schnell in einen Zustand des «Autopilots», das Scrollen passiert nebenbei, oft ohne echtes Ziel oder Bewusstsein. Umso wichtiger ist es, bewusst innezuhalten und die eigene Nutzung regelmässig zu reflektieren (Hu et al., 2023).
Trainiere deine Selbstbeobachtung mit diesen Fragen:
- Wie fühlst du dich vor dem Griff zum Smartphone oder Laptop? Bist du gelangweilt, gestresst oder brauchst du eine Pause?
- Was war dein konkretes Ziel beim Öffnen der App oder Webseite? Hast du dieses Ziel erreicht, oder hast du dich ablenken lassen?
- Welche Inhalte taten dir gut, z. B. inspirierende Beiträge, humorvolle Clips oder beruhigende Musik?
- Welche Inhalte belasten dich eher, machen dich nervös, traurig oder kosten dich Energie?
Ein kurzes Medien-Tagebuch kann dir helfen, solche Muster sichtbar zu machen (Hu et al., 2023). Notiere dir für ein paar Tage:
- Welche Apps oder Medien du genutzt hast
- Wie lange du jeweils online warst
- Wie du dich davor und danach gefühlt hast
- Welche Inhalte hilfreich oder negativ waren
Tipp: Mach das Ganze einfach, ein Notizbuch, eine Notizen-App oder sogar eine kleine Checkliste reichen völlig. Du wirst überrascht sein, wie schnell sich dadurch mehr Bewusstsein für deinen Medienalltag entwickelt. Achtsamkeit ist kein Verzicht, sondern ein Weg, die Kontrolle zurückzugewinnen (Hu et al., 2023).
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Schlaf vor Bildschirm schützen
Zu viel Bildschirmzeit am Abend kann bei ADHS den Schlaf massiv stören, nicht nur wegen der psychischen Aktivierung, sondern auch durch das blaue Licht, das die Ausschüttung von Melatonin hemmt. Wer abends noch stundenlang scrollt oder Serien schaut, riskiert, später einzuschlafen und schlechter durchzuschlafen (Van den Eijnden et al., 2022).
So schützt du deinen Schlaf effektiv:
- Spätestens 1 Stunde vor dem Schlafen alle Bildschirme ausschalten: Handy, Tablet, Fernseher und Co. sollten pausieren, damit dein Gehirn zur Ruhe kommen kann.
- Blaulichtfilter aktivieren oder spezielle Brillen nutzen: Viele Geräte haben einen integrierten Nachtmodus, der das Blaulicht reduziert. Alternativ helfen Blaulichtfilter-Brillen, die du ab dem frühen Abend tragen kannst.
- Abendroutine mit bildschirmfreien Aktivitäten etablieren: Statt digitaler Reize lieber analoge Rituale pflegen, z. B.:
- ein gutes Buch lesen
- beruhigende Musik hören
- ein Entspannungsbad nehmen
- ein Tagebuch schreiben
- ruhige Gespräche mit vertrauten Personen führen
- Lichtquellen dimmen und Schlafumgebung vorbereiten: Auch die Raumbeleuchtung spielt eine Rolle. Warmes, gedämpftes Licht am Abend signalisiert dem Körper: Jetzt wird es Zeit, runterzufahren.
Tipp: Wenn du das Handy auch als Wecker nutzt, stell es abends in den Flugmodus und platziere es ausser Reichweite. So kommst du nicht in Versuchung, doch noch „kurz“ aufs Display zu schauen (Van den Eijnden et al., 2022).
Fazit: Nicht wie viel, sondern wie
Bei ADHS geht es nicht nur um die Dauer der Bildschirmzeit, sondern vor allem um die Art der Nutzung. Wenn du lernst, Reize bewusster zu steuern und medienfreie Momente zu schaffen, kannst du den digitalen Alltag besser im Griff behalten. Fang klein an: Mit einem Zeitlimit, einer bewussten App-Auswahl oder einem abendlichen Handy-Stopp. Jeder Schritt zählt für mehr Ruhe und Klarheit.